Er ist Mangelware, machen wir uns nichts vor – der Anstand ist vielleicht noch mehr von Aussterben bedroht, als der Dandy. Es gibt ihn kaum noch. Leute, die nicht zurückrufen, obwohl man es sich fest versprochen hat, Menschen, die ohne Entschuldigung immer zu spät kommen, Drängler, die einen im Supermarkt oder am gate für den nächsten Flug, beim Joggen im Park oder einfach beim Spaziergang umrempeln. Früher war Anstand das Kennzeichen des gentlemans, ein unabdingbarer Beweis der guten Erziehung, vollendete Umgangsformen sollten das Leben in der guten Gesellschaft vereinfachen und glätten. Es ist eine Frage, ob diese gute Gesellschaft inzwischen nicht von einer des Hau-draufs abgelöst wurde, zugunsten des allgegenwärtigen Turbokapitalismus, in dem das Klassenbewusstsein aufgelöst ist durch die zerfresssende Säure der allgegenwärtigen Gier.
Es ist mir selbst passiert, dass ich eine Cartier Pasha jemandem „für einen Tag“ lieh, ohne den Entleiher oder die Uhr jemals wiederzusehen. Es ist der Preis der Anständigen, den sie an die Unanständigen immer entrichten, weil sie nostalgisch an gewisse Regeln denken, mit denen sie auf verlorenem Posten stehen. Sie können einfach nicht begreifen, wie sehr sich der gesellschaftliche Umgangston inzwischen verändert hat. Anstand hat immer etwas rezessives, man zeichnet sich zwar damit aus, hängt aber auch von der Umwelt ab, die diesen als solchen noch zu erkennen imstande ist. es ist sozusagen auch eine Facette des Anstands, dass man ihn als Anständiger formvollendet zur Geltung zu bringen hat, ohne zu wissen, ob die Grundlage für dessen Rezeption in aller Form noch gegeben ist. So gesehen kann der Anstand ein ständiges Verlustgeschäft sein, man erhält zunächst vielleicht nichts zurück, ausser der eigenen Gewissheit, dass man richtig und aufrichtig gehandelt hat.
Der Anstand ist gewissermassen eine Projektion nach aussen: Man kann nur hoffen, dass das Licht, das man durch ihn nach aussen abstrahlt, von einer geeigneten Oberfläche reflektiert wird, dass er gewissermassen zurückgeworfen wird. Er ist eine Haltung der Welt gegenüber, die man im besten Falle reziprok von ihr erwartet, mit dem feinen Paradox, dass man eigentlich anständigerweise gar nichts zu erwarten hat, weil diese Erwartungshaltung für den zu erweisenden Anstand gar keine bis sehr geringe Bedeutung hat. Man ist zunächst vor sich selbst den eigenen Ansprüchen verpflichtet und weiss, dass man als Gegenleistung nicht unbedingt etwas zu gewärtigen hat. Es ist dies die wahre Schönheit einer Haltung, die durch ihr feines Gespür für Anlässe und Situationen aus sich selber heraus existiert. Man geht guten Gewissens voran und freut sich an jeder noch so geringen Reaktion:
Es geht ungerecht zu auf der Welt: Ein Schurke darf sich jede Anständigkeit herausnehmen, ein anständiger Mensch aber nicht die kleinste Schurkerei.
Mark Twain (1835-1910), eigtl. Samuel Langhorne Clemens, amerik. Schriftsteller
Jeder schließt von sich auf andere und berücksichtigt nicht, daß es auch anständige Menschen gibt.
Heinrich Zille (1858-1929), dt. Zeichner
Man sollte immer anständig spielen, wenn man die Trümpfe in der Hand hat.
Oscar Wilde (1854-1900), ir. Schriftsteller
Man kann sich durchaus fragen, ab der Anständige nicht der ist, der die Trümpfe immer noch in der Hand hält, während sie dem Unanständigen langsam aus der Hand geglitten sind. Eine gewisse Höflichkeit kann lebensrettend sein, sie ist die Kufe auf dem eisglatten Boden des gesellschaftlichen Parketts, mit der man Pirouetten drehen kann.
Es gibt dafür einige einfache Regeln:
Man lasse Damen und Älteren immer den Vortritt, erhebe nie die Stimme (es sei denn, man ruft ein Taxi), fluche nicht, verbeuge sich bei jeder Begrüssung leicht, rede nie über Geld, lache nicht über anderer Leute Missgeschicke, enthalte sich also der Schadenfreude. Man bemühe sich, jederzeit ein gutes Beispiel zu geben. Man verletze niemals anderer Leute Gefühle, sei immer diskret. Eine gewisse Verschwiegenheit über Dinge, die andere nicht unbedingt erfahren müssen, ist stets angezeigt. Man gebe sich humorvoll und aufgeschlossen, glänze durch Toleranz anderen gegenüber und sei dabei niemals aufdringlich. Man sei ein guter Zuhörer. Man stehe anderen nicht im Weg.
Ein Dandy ist im besten Falle eine Ikone des Anstandes. Er wahrt immer eine gewisse Distanz, die es ihm ermöglicht, die Verhaltensweisen anderer leichter einzuschätzen, aus der Ferne zu beurteilen und dabei ein gewisses Niveau zu halten. Man betrachtet die Dinge eigentlich wie durch ein Fernrohr, die Position des Dandys ist der des Ausgucks auf einem Passagierdampfer zu vergleichen: Man blickt voraus, um Gefahren zu erkennen, ist dabei selbst aber ausser Gefahr, weil man seine etwas erhobene Warte nicht verlassen muss. Man gefährdet seine Würde nicht, auch wenn die Frechheiten der Umwelt dies ständig mehr erschweren. Man bleibt seinen eigenen Ansprüchen verpflichtet – darin liegt eine gewisse Macht. Anstand ist der Bruder der Höflichkeit:
Man rede dem Arbeiter nichts von Anstand, Höflichkeit und guten Sitten, wenn man ihm nicht gleichzeitig die Bedingungen gibt, daß er anständig und höflich bleiben kann. Dreck und Schweiß färben ab, nach inner mehr als nach außen.
Aus: B. Traven: Das Totenschiff
Mit Geld ließ sich einiges kaufen; gewiß, eine höfliche Behandlung nicht immer.
Aus: Graham Greene: Orient-Expreß
Nicht Höflichkeit war es, die man vom Leben forderte, sondern Liebe.
Aus: Graham Greene: Der menschliche Faktor
Höflichkeit konnte mehr unüberwindliche Sperren zwischen Menschen aufrichten als Hiebe.
Aus: Graham Greene: Der menschliche Faktor
Der Feind mußte eine Karikatur bleiben, wollte man ihn auf sichere Distanz halten, auf keinen Fall durfte er sich in einen lebendigen Menschen verwandeln. Die Generäle hatten recht — zwischen den Schützengräben dürfen keine Weihnachtswünsche ausgetauscht werden.
Aus: Graham Greene: Der menschliche Faktor
Oft wird die normale Höflichkeit von arroganten Leuten für Schwäche gehalten oder sogar für Kriecherei.
Aus: Peter Tremayne: Der Tote am Steinkreuz
Höflichkeit ist Gift für jede gute Zusammenarbeit.
Aus: Reinhard K. Sprenger: Aufstand des Individuums
Siehe: Arbeit
Um der Höflichkeit willen macht man stets zu viele Zugeständnisse. Die Leute nützen das aus, um einen schlecht zu behandeln.
Aus: Robert Merle: Ein vernunftbegabtes Tier
Höflichkeit ist das beste Verkaufsargument.
Jörn M. Kreke (*1940), dt. Unternehmer, b. 2001 Vorstandsvors. „Douglas Holding“
Höflichkeit ist die annehmbarste Form der Heuchelei.
Ambrose Bierce (1842-1914), amerik. Schriftsteller u. Journalist
Höflichkeit ist ein Luftkissen: Es mag wohl nichts drin sein, aber es mildert die Stöße des Lebens.
Arthur Schopenhauer (1788-1860), dt. Philosoph
Das ist die Essenz japanischer Höflichkeit: „Verhalte dich so, daß der andere sein Ansehen wahren – besser noch – mehren kann.
Hisako Matsubara (*1935), japan. Journalistin u. Schriftstellerin