Essay zu Michel Foucault

Ich habe mich schon immer für Michel Foucault interessiert, er scheint mir einer der brillantesten Geister Frankreichs gewesen zu sein, vielleicht sogar Europas. Besonders sympathisch ist mir, dass er seine Dinnerparties oft verliess, um in schwarzem Leder und einer Kette um den Hals in der Schwulenszene des Marais aufzugehen, während sich sein bester Freund plötzlich in der Rolle des Gastgebers sah. Es erscheint mir sinnvoll ein Weltbild zu sein, das er vorstellt, und ich breche seitdem, und werde den Leser dieser Zeilen daran teilhaben lassen, die Realität am Werke und der Biographie Michel Foucaults. Keine Sorge, ich breche das hochkomplizierte Werk auf das Niveau eines Werktätigen herunter, genau, wie Foucault es gewünscht hätte – er sei nicht als Literat zu sehen, sondern stelle sich seine Bücher wie Werkzeugkästen vor, aus denen der Leser sich bediene, und ähnlich stelle ich mir diese Zeilen vor. Wie eine Legobauanleitung, das Dasein voller Humor zu meistern.

Sinn für Wahn und die Fähigkeit, darüber zu schreiben scheinen bei mir und Michel Foucault eine glückliche Ehe einzugehen: Während ich versuche, meine Ausgabe “Folie et déraison” in einem

Band aus dem Jahr 1965 vor dem Auseinanderfallen zu bewahren, wie andere Menschen ihr Weltbild – seltsam symbolisch, finden Sie nicht? – während ich Marginalien finde, die ich offenbar mit 18 einfügte – das erste Zuchthaus auf deutschem Boden wurde in Hamburg 1620 gegründet, die Jungpfer hatte einen Turm, in dem die Wahnsinnigen untergebracht waren, nicht weit vom Apple- Store – seltsam symbolisch, finden Sie nicht? – reise ich an der Hand des großen, schwulen, glatzköpfigen, französischen, an AIDS gestorbenen Philosophen durch die Kulturgeschichte des Wahnsinns, auf das füglichste umhegt und bekocht von meinen Freunden auf dem Lande, ein schöner Zustand, in der Tat. Wollen wir uns also auf eine Reise begeben, an deren Ende der Leser wohl an seinem Verstand zweifeln wird, vorausgesetzt er hat einen, was natürlich bei einem Konsumenten dieser Publikation ein Paradoxon sui Generis ist, aber dazu kommen wir noch.

Da ich wahnsinnig war in meinen bipolaren Episoden, fühle ich mich kompetent, die Grenzen des Wahnsinns zu erörtern, da ich sie erkundet habe – Größenwahn, Schönheitswahn, Konsumwahn und nicht zuletzt der Wahn der Liebe sind mir vertraut wie kaum einem anderen, fürchte ich, und in einigen Lebensabschnitten stete Begleiter gewesen, es darf gesagt sein. Zum Glück begleiteten mich auch schöne, junge Männer stets, aber das ist eine andere Geschichte, im Falle des Liebeswahns, den wir im Zuge einer Klimax ans Ende der Erörterung stellen worden, ein Glücksfall, darf ich feststellen. Das letztere Epigonen zu Episoden des Größenwahns beitragen, sei nur am Rande erwähnt. Dass ich mich für einen der brillantesten Essayisten seit Bertrand Russell halte, der zufälligerweise mein Geburtsdatum teilt, mag ein weiteres Symptom sein, das durch einen guten Rotwein natürlich verstärkt wird – auch im Rotwein kenne ich mich aus wie kaum ein anderer, aber auch das ist eine andere Geschichte.

Punktum. Foucault berichtet von dem Phänomen der Narrenschiffe, und er meint damit nicht die überfüllten und überhandnehmenden Ozeanriesen, die, bevölkert von zahlungskräftigen Irren aller Couleur, jederzeit winkend wie Idioten, umgeben von Idioten, die zurückwinken, am Überseeterminal zu besichtigen sind, nein: In der Renaissance waren die Narrenschiffe Barkassen auf ständigem Turn, in denen die wackeren “normalen” Bürger die aus der Art Schlagenden auf Reisen schickten, wie es Hieronymus Bosch im Bilde festhielt und Thomas Murner in seiner Narrenbeschwörung aufzeichnete. “Wasser und Irrsinn”, so schreibt Foucault, “sind seit langem in den Träumen des Europäers verankert”, “ ein obskures und aquatische Phänomen, eine dunkle Störung, ein sich bewegendes Chaos, die Saat und der Tod aller Dinge, das dem erhellten Geist und der erwachsenen, gereiften Stabilität sich entgegensetzen.” Tristan landet, vom Wasser kommend, an der Küste von Cornwall, und als er an die Feste König Marks gelangt, erkennt ihn niemand, noch weiß man, woher er gekommen ist. Iseut ruft aus: “ Verflucht seien die Seeleute, die diesen Verrückten brachten! Warum warfen sie in nicht ins Meer?”

Weil man die Verrückten alsbald, genauer gesagt mit Anbruch des siebzehnten Jahrhunderts, in Gefängnisse warf, zu den Verbrechern, Schuldnern, Mördern und anderem Gelichter, aber wir greifen vor. In Nürnberg waren Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts 63 Narren registriert, von denen man 31 vor die Stadtmauern trieb, 21 wurden ebenfalls entfernt, “und dies sind nur jene gewesen, die von den Autoritäten erfasst wurden. Oft wurden sie Bootsleuten übereignet. Im Jahre 1399 instruierte man zu Frankfurt, die Stadt von denen zu entlasten, die nackt durch die Straßen liefen. Mainz warf nur einen hinaus” – es wäre interessant zu wissen, wen.

Man muss wissen, dass sich die Hospitäler der Leprösen im Europa des frühen Mittelalters geleert hatten, man nimmt an durch den geringeren Einfluss der Kontakte zum Osten, und es entstand ein gewisser Leerstand, der im Geiste des Europäers durchaus erhalten blieb, folgt man den Argumenten Michel Foucaults. Im zwölften Jahrhundert hatte es in England und Schottland noch 220 Leprahäuser gegeben, für anderthalb (!!!) Millionen Insassen. Edward III ordnete 1342 eine Untersuchung zu Ripon an, und man fand keinen mehr. In dieses Vakuum stießen alsbald die Verrückten.

Dass ich, da ich diese Zeilen schreibe, nicht in Eiswasser sitze, verdanke ich allein der Tatsache, nicht im 18. Jahrhundert manisch gewesen zu sein – es ist im übrigen auch besser für meinen Laptop. “Weisheit”, ruft Jérôme Cardan aus, “muss wie andere preziösen Substanzen aus dem Gekröse der Erde gerissen werden” – nun, gärtnern wir also weiter: Erasmus von Rotterdam ordnet die Irren in seinem Fest der Narretei wie folgt: Nach den Grammatikern, den Poeten und Rhethorikern kommen gleich die Schriftsteller (gesegnet sei die Reformation!), gefolgt von Juristen, “respektable Philosophen mit Bart und Mantel“, schließlich eine unendliche Anzahl von Theologen:

“O vos doctores, qui grandia nomina fertis, Respicite antiquos patris, jurisque peritos, Non in candidulis pensebant dogmata libris, Arte sed ingenua sitibundum pectus alebant”

Wen jetzt sein Latinum verlassen hat, sei im übrigen ohne Sorge, ich wollte nur den Wortlaut des großen Erasmus einmal erklingen lassen, ähnlich, wie meine jungen Élèven mir einen Song von Rihanna vorspielen. “Wir verdanken die Erfindung der Künste wahnhafter Imagination. Die Capricen von Malern, Poeten und Musikern sind nur eine höfliche Umschreibung ihres Wahnsinns” (Saint-Évremont, Sir Politik would be, Akt V, Szene ii). Der Arzt Lady Macbeths stöhnt, ihr Irrsinn sei eine “disease beyond my practice”, während sie Worte murmelt, die man nur in “tote Kissen ächzt” – und wahrlich, so wird es bleiben, jahrhundertelang, bis ich in der Praxis meines eminenten Psychiaters Dr. Ziegeler sitze, Wandsbecker Chaussee 2, im Schatten der Mundsburg, und mir Zyprexa verschreiben lasse, statt der Elektroschocks, die noch immer bei schweren Fällen ein Mittel der Wahl sind.

“Wahnsinn”, schreibt Foucault, “ ist die puristischste, totalste Form des quid pro quo; sie nimmt das Wahre als falsch, den Tod für das Leben, Mann für Frau, den Geliebten als Erynnie, und das Opfer hält er für Minos.”

Und dann beginnt man sie wegzusperren, die Irren: 1656 wird das Hôpital Géneral in Paris gegründet, nach einem Dekret Ludwigs XIII. Die Armen Paris ́ werden dort untergebracht, “beiderlei Geschlechts, allen Alters und aller Orte, uneingedenk ihrer Herkunft und Geburt, gesund oder invalide, krank oder rekonvaliszierend, kurierbar oder nicht” – was mich irgendwie an meine Krankenkasse gemahnt, die immernoch auf Beiträge wartet, und die Alsterdorfer Anstalt, in der ich acht Wochen untergebracht war, nachdem ich schwer depressiv die gesamte Hausbar des Vaters meines Exfreundes geleert hatte….

Als Henri IV Paris belagert, hat die Stadt 100000 Einwohner, von denen 30000 Bettler sind, amerikanische Verhältnisse zumal, finanzkriselnde. Und die Verrückten? Nun ja, in Hamburg stellt man 1622 (natürlich) Zuchthausregeln auf. Sie müssen arbeiten, zu einem Viertel des üblichen Lohns, man haut meistens Holz, nach dem protestantischen Motto, “wer nicht arbeitet, darf nicht essen”, eine Maxime, die in ihren Ausläufern bis zu Hartz IV ja noch in Kraft ist, geistigen Brandstiftern der Couleur Sarrazin zu Dank. Radix malorum omnium, die Wurzel allen Übels, ist die Faulheit. Nun ja. Foucault: “In der klassischen Zeit wurde zum ersten Mal der Wahnsinn als Folge der Untätigkeit gesehen, im Zusammenhang einer sozialen Immanenz innerhalb einer Gemeinschaft der Arbeit. (…) Ist das nicht der Traum der Gründer des Hamburger Zuchthauses? Einer der acht Vorsteher hat jederzeit dafür zu sorgen, dass die religiösen und moralischen Pflichten einzuhalten sind, bis (…) hin zum Gottesdienst…” Die armen Irren.

Die parlamentarische Untersuchungskommision des House of Commons stellt 1815 fest, dass im Bethlehem House jeden Sonntag Verrückte zur Schau gestellt werden, “für einen Penny pro

Besucher.” Der Direktor von Charenton, ein gewisser Coulmier, lässt seine Wahnsinnigen Theaterstücke aufführen (Jean-Étienne-Dominique Esquirol, Mémoire historique et statistique sur la Maison Royale de Charenton in Des maladies mentales, Paris 1838, Band. II, Seite 212): “Die Irren dieser Inszenierung waren der Aufmerksamkeit und Neugierde eines frivolen, unzugänglichen und oft bösartigen Publikums ausgeliefert. Die bizarren Verhaltensweisen dieser Unglücklichen und ihr Zustand provozierten gehässiges Gelächter und beleidigendes Mitleid unter den Zuschauern” – klingt doch wie ein Privatsender – kurz: Wahnsinn wurde zum Spektakel. Man beobachte einmal die Passanten der Mönckebergstrasse an einem verkaufsoffenen Sonntag, ihrem Konsumwahn im Kollektivwahn fröhnend, wie sie jemanden anstarren, der laut zeternd in einem Operncape durch die Fußgängerzone irrt: Ich fürchte, die Zivilisation hat sich nicht wirklich weiterentwickelt, ähnlich, wie mich die Tänze der Jugend zu Techno des Nachts im EGO an Rituale der jungen Massai gemahnen, aber auch das ist eine andere Geschichte…

Was mich zu den Schilderungen meiner Manie führt. Ich habe sie in meinem Werk “Affairencharakter” hinlänglich auserzählt. Das Publikum findet sie unterhaltsam. Sie zu durchleben ist schon eine etwas andere Sache. Nur als apercu, eine Randbemerkung. Immerhin wurde ich nicht nackt in einem Keller an eine Wand gekettet, zur Bettstätte nur einen Strohsack habend, wie es im “Bethlehem” und in ganz Europa geschah. In seinem Report on the Care of the Insane beschreibt Desportes die Verhältnisse in Bicêtre: “Ein Unglücklicher, dessen Möbel aus einem Strohkissen bestand, lag mit Kopf, Füssen und Körper an eine Wand gepresst und konnte nicht schlafen, ohne vom heruntertropfenden Wasser durchweicht zu sein.” In La Salpêtrière war “der Ort noch miserabler und oft tödlich. Im Winter stieg der Pegel der Seine und (…) Schwärme von Ratten bissen die Insassen in alle Extremitäten, viele (…) von ihnen starben daran.”

Foucault: “Ohne Zweifel war es der westlichen Kultur essentiell, in der Apperzeption den Wahnsinn ikonographisch als Verhältnis von Mensch zu Tier zu betrachten.” Ich hoffe, in diesem Vergleich ein Steinadler zu sein.

“Die Ablenkung unseres Geistes ist das Resultat einer blinden Unterwerfung unter unseren Trieb, einer Unfähigkeit unsere Leidenschaft zu zügeln”, sagt Francois Boissier de Sauvages in seiner Nosologie méthodique (Lyons 1772, Band VII, Seite 12). Jeder, der mich beim Verschenken von Gucci-Lederjacken an einen Favori beobachtet hat, wird dies bestätigen können. Was uns zum Liebeswahn bringt, dessen Ende nicht oft der Mord im Affekt ist. “ Daher die amourösen Exzesse, die Antipathien, die unkeuschen Gelüste, die Melancholie, ausgelöst von Trauer, die Zustände nach Zurückweisung, die Völlerei, die Trunksucht, diese Absencen, die körperlichen Sünden, die alle den Wahnsinn hervorrufen, die schlimmste aller Krankheiten.” Die Möglichkeit des Wahnsinns gehört implizit zur Leidenschaft, sagt Foucault. Future Lovers, beware!

Rober Whytt führt aus: “Der Leidende ähnelt mehr einer Statue denn einem lebenden Menschen.” Vor allem, wenn er im Liebeskummer auf der Couch tagelang TV-Serien sieht. Und in einem Artikel zum Wahnsinn in der Encyclopédie (ich bedauere, wohl ein französisches Grundlagenwerk, das Foucault voraussetzt, die Quellenlage im Anhang ist etwas uneindeutig bis auf das Zitat): “Veritabler Wahnsinn ist die Zerrüttung des Geistes, all die Illusionen der Selbstverliebtheit, alle unsere Leidenschaften, wenn sie bis zur Blindheit führen. Blindheit ist das distinktivste Charakteristikum des Wahns”.

Liebe macht so blind wie der Wahn, also sind Liebe und Wahn dasselbe. Von Liebe zu Gott zu Al Quaida führt nur ein Hauch.

So. Ich steig jetzt aus dem Eiswasser, nehm die Elektroden ab und nehm ne Zyprexa. Gott befohlen.