Ich bin zerbrechlich.
Ich sitze im Neubau des Christoph-Scheiner-Gymnasiums in Ingolstadt. Christoph Scheiner war ein gelehrter Jesuitenpater, Physiker, Optiker und Astronom sowie Berater von Erzherzog Maximilian III. Der Erfinder mehrerer Instrumente wirkte in der Universität der bayerischen Residenzstadt als Professor für Mathematik, Physik und Hebräisch.
Er gilt mit Galileo Galilei und Johann Fabricius als Entdecker der Sonnenflecken. Am Vormittag des 21. März 1611 richtet er sein Teleskop vom Turm der Heilig-Kreuz-Kirche auf den hellsten Himmelskörper, das Licht wird auf eine Platte mit einem Blatt Papier fallen und so entdeckt er sie.
Ich blicke über den Pausenhof am Observatorium vorbei hinüber auf unseren Altbau, ein ockerfarbenes, klassizistisches Ungetüm mit Glockenturm, und direkt dahinter fließt die Donau, breit und träge strömt sie bis nach Wien und Budapest, bis ins schwarze Meer. In Budapest wurde mein Vater geboren. Als ich zehn war, nahm mein Vater mich und die ganze Familie mit zu einer Reise nach Budaörs, einem kleinen verschlafenen Vorort der ungarischen Hauptstadt. Er war auf der Suche nach seiner kirchlichen Geburtsurkunde.
Ich bin in Gedanken auch ganz weit weg.
Es ist ein heißer, flirrender Sommer im Jahr 1985, ich sitze im Lateinunterricht und bin 15 Jahre alt.
Ich bin ganz stolz auf mein neues Sweatshirt. Es ist olivgrün und auf dem Ärmel steht in roter Schrift „FRAGILE“. Dr. Pohl, der Lateinlehrer, dem immer etwas auffällt, bemerkt die Schrift und sagt zur Klasse gewandt: „Puer fragilis est“ – „er ist ein zerbrechlicher Junge.“ Wenn Dr. Pohl das sagt, soll es mein Motto sein, für mein ganzes Leben; damals war mir das nur noch nicht richtig bewußt.
Ich bin spindeldürr, ein Hänfling. Das bin ich heute noch; man sagt mir immer wieder, ich solle mehr essen. Mir fällt ein, dass in jener Lateinstunde hinter mir Britta saß, Klassenbeste in fast allen Fächern, sie rief sofort: „Fragile! Fraschile! Das ist Französisch!“ Ich bin also ein französischer zerbrechlicher Junge.
Dauerlauf mit Mitschülern an der Donau entlang Richtung Stauwerk. Auf halber Strecke muss ich meist schon aufgeben. Und wenn die Fußballmannschaft zusammengestellt wird, bleibe ich immer übrig. Beim Bodenturnen bin ich leidlich gut, am Reck schon besser, im Ball-Werfen eine Niete. Was ich beim Sport auch nicht mag, sind Umkleidekabinen. Die anderen riechen für mich komisch, es ist eng und es ist mir unangenehm vor den anderen Turnhose und Turnhemd anzuziehen. Ich bin lieber in meinem Sweatshirt. Und meiner Karottenhose.
Keine Niete bin ich in Latein, im Gegenteil. Das gleiche gilt für Französisch. Ich bin der blonden Anwaltstochter Britta, deren karierte Burlingtonsocken meinen Neid erregen, dicht auf den Fersen, aber nur mit meinen Noten; in der Klasse nennen sie mich den „Professor“.
Französisch hab ich von meinen Tanten gelernt, die in Brüssel leben. Ich habe sie ein paarmal besucht. Maria und Katharina sind die älteren Halbschwestern meines Vaters, der nach dem Tod seiner Mutter zeitweise bei ihnen aufwuchs. Grandes Dames: elegant, wohlsituiert, schöne Ungarinnen. Sie gingen nach dem Krieg nach Belgien, als Hausmädchen, verliebten sich, heirateten. Marias Mann, aus wohlhabender Familie stammend, war ein musikalisch sehr talentierter Metzger, er spielte auf dem Klavier Jazz und gab, um seinem Schlachterladen in Brüssel zu entfliehen, im mondänen Wasserheilbad Spa in den Ardennen Konzerte. Marias Begabung war das Nähen von besonders edlen Krawatten, womit sie sogar Geld verdiente; mein Vater besitzt heute noch welche von ihr. Maria schickt an uns ganze Vermögen an Pralinés nach Ingolstadt. Wahre Wunder sind die roten Erdbeeren aus Marzipan, mit Zuckerkristallen bestreut. Jedesmal, wenn ein Päckchen ankommt, mit den Briefmarken, auf denen König Baudoin im Profil zu sehen ist, kommt ein wenig Brüssel an in Ingolstadt; ein schwacher, feiner Zauber legt sich über meine enge Welt.
André würde eines Tages kein Instrument mehr anrühren und Maria keine Kinder mehr um sich herum ertragen, schuld ist eine Tragödie, die das Leben der beiden überschatten wird.
Ich war zehn, als bei uns in Ingolstadt ein Anruf aus Brüssel ankommt. Es war ich, der ans Telefon ging. Marias Mann André war am Apparat, weinte, und sagte „Michel ist tot“. Ich legte den Hörer weg, stürzte zum Fenster und rief in den Garten, wo meine Mutter bei den Blumenbeeten war, „Mama, der Michel ist tot!“ Sie hielt im Harken inne, und schrie zu meinem Vater im nahen Keller, „Michael! Michel ist tot! Michel ist tot!“, und mein Vater rannte die Treppe hoch, hinein ins Haus und zu mir zum Telefon, wo sein belgischer Schwager mit der Todesnachricht wartete.
Michel, Marias und Andrés einziger Sohn, mein Cousin, stand , als es passierte, kurz vor der Hochzeit, er war mit seiner Verlobten in einem R4 unterwegs und wurde von einem gepanzerten Fahrzeug der Brüsseler Polizei überrollt.
Michels Tod machte mich zum letzten männlichen Sprößling einer Familie, in der Tradition immer eine große Rolle spielte; Ich wurde zum gehätschelten, jüngsten Trieb am Stammbaum.
An Maria bestaunte ich immer, wenn ich in Brüssel war, den beachtlichen Goldschmuck einer Madame, und die karierten Kostüme, die von Chanel waren. Nun trug sie nur noch schwarz.
Was ich von ihr noch besonders in Erinnerung habe: Ihr hartes, rollendes R, ihr leichter ungarischer Akzent im ansonsten geschliffen feinen Französisch. Von Onkel André erbte ich später einmal ein Paar Sommerhosen, feingestreift in Weiß und Blau und goldene Manschettenknöpfe mit tiefblauem Lapislazuli. Diese Schmuckstücke trage ich heute noch.
Damals aber, als Gymnasiast, waren mir Manschettenknöpfe fremd. Nicht nur das, ich hatte als Popper-Teenager, der gerne Neue Deutsche Welle hörte (Markus zum Beispiel: „Ich will Spass, ich will Spass, ich geb Gas, ich geb Gas“), einen unsäglich schlechten Geschmack. Sehe ich heute Fotos aus dieser Zeit, fühl ich mich peinlich berührt.
Mit sechzehn dann ein Stil-Urknall. Auf meinem Schulweg liegt das teuerste Modegeschäft von Ingolstadt bis kurz vor der Theatinerstrasse und Maximilianstrasse in München. Dort kaufte meine Mutter ihren ersten Pelz. An ihm komme ich täglich vorbei. Und dann bekomme ich irgendwann mein erstes Sakko – zur Tanzstunde. Ich will plötzlich einen eigenen, ganz individuellen Stil entwickeln. Wie es dazu kam, fragte ich neulich meine Mutter. Sie wisse es nicht genau, meinte sie. Ich hätte mit einem Mal Interesse für Mode gezeigt. „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen“ dichtet der große August von Platen. Mir dämmerte die Morgenröte all dessen, was schön war. Dass azurne Licht einer schöneren, neueren Welt. Mein Blick verlor sich im Visionären. Ich floh meine grau betonierte Gegenwart, die Enge der Kleinstadt, hinein in eine schillernde Zukunft. Mode wurde mein Leben.
Eine Inspirationsquelle gab es, das war ausgerechnet die Zeitschrift „Capital“, die mein Vater las. Ich sehe ihn vor mir wie er auf dem braunen Samtsofa liegt, die Beine ausgestreckt, darin blätternd – in einem schwarzen Hochglanzheft. Mich elektrisierte die Uhrenanzeige, die hinten drauf war. Eine Uhr von Piaget. Ich sehe sie heute noch vor mir, oval, golden, mit einem blauen Ziffernblatt. Ich konnte kaum erwarten, dass mein Vater mit dem Lesen fertig war. Irgendwann legte er das Heft aus der Hand. Schüchtern fragte ich, ob ich die Zeitschrift haben dürfte. „Was willst du denn damit“, fragte er lächelnd. „Hier, darfst du behalten“, sagte er. Ich nahm sie und ging damit auf mein Zimmer. Ich weiß nicht, wie lange ich darin versank. Eine Welt tat sich auf, eine weite, wundervolle Welt.
Ich schnitt vorsichtig die Anzeigen aus, mit einem Rasiermesser. Eine neues Universum.
Ich sah den jungen Werner Schreyer, das scharfe, scharfgesichtige Topmodel damals. Ich sah die aufregende Unterhosen-Werbung von Calvin Klein mit einem kaum bekleideten Mark Wahlberg, der damals noch Marky Mark hiess schöner Körper löste bei mir ein mir bis dato nicht vertrautes Sehnen sehnen.
Der griechische Dichter Theognis ( 570 – 490 v. Chr.) schreibt: „Einen Jungen zu lieben ist Spannung: Sogar Kronos´ s Sohn, der König der Unsterblichen, sehnte sich nach Ganymed, entführte ihn, brachte ihn auf den Olymp und erhob ihm zum Gott, blühend, lieblich, ewig jung. Nun, Simonides, wundere dich nicht, wenn ich dir offenbare, dass ich mich zeige und gezähmt bin durch die Liebe zu einem Jungen…“ Ich ging ästhetisch K.O.
Ich verteilte die Uhrenbilder und Männerkörper in meinem Zimmer. Und erstaunlicherweise kommentierten das weder mein Vater noch meine Mutter. Kein Fußballspieler, kein Rockstar, kein Ferrari. Nicht einmal ein Schriftsteller. Und über allem thronte mein Idol Markus Schenkenberg, ein anderes Model, den ich auf meinen Biologie-Ordner klebte. Herr Brosinger, der Biolehrer, stellte mich etwas verwundert zur Rede – und ich sagte ihm, es sei meine Auffassung von Ästhetik. Ich radelte nach der Schule zwei Kilometer zum Hauptbahnhof, suchte nach Abbildungen von Männern, fand sie in der „Vogue Homme International“ aus Paris, die ich für 12 Mark von meinem ersparten Taschengeld kaufte. Sie wurde meine Bibel, ich sammelte später Jahrgang für Jahrgang.
Mit meinen bescheidenen Mitteln versuchte ich Männermode an mir selbst zu verwirklichen. Ich sollte der erste Junge sein, der in der Schule ein Sakko trug, meins war aus cremefarbenem Leinen (heute besitze ich etwa 20 Anzüge und 30 Sakkos sowie 40 Hemden). Im Sommer kombinierte ich dieses Sakko mit Bermuda-Shorts und Kniestrümpfen, das hatte ich aus der „Vogue Homme“, auf den Laufstegen in Paris war das der letzte Schrei, in Ingolstadt wurde ich dafür von meinen Mitschülern verspottet.
Ich liess meine dunkelbraunen Haare lang wachsen. Bändigte meine Locken mit viel Gel. Band meine Haare mit einem Gummiband zum Zopf.
Zu Weihnachten bekam ich meine erste Krawatte, aus Leder, grau, ganz schmal. Ein Geschenk meines Vaters, der heute noch schlank und chic wie er ist im Theater manches mal eine weiße Lederjacke trägt.
Einmal saß ich in weißem Hemd mit schwarzer Weste und selbstgemachten Knickerbockern (ich kürze meine Hosen, indem ich sie umschlug und an den Waden mit Einweckgummis gürtete) in der Pausenhalle, als ein Junge im Trachtenjanker mir zurief: „Du siehst aus wie ein Clown!“ Ich? Was wussten die schon? Ich war auf dem besten Wege zum Dandy… Ganz wie eine knospende Orchidee unter lauter Primeln. Meine Eltern liessen mich gewähren. Einmal allerdings legte mein Vater ein Veto ein. Ich zog Radlerhosen in Lila, zum Sakko, womit Gaultier in Paris gerade Furore gemacht hatte. Meine private parts waren ihm zu sichtbar. Aber meiner Mutter, die studierte Textilingenieurin hatte kein Problem damit. Ich hatte ihr auch Fotos vom Laufsteg der Männerschauen in Paris gezeigt.
Ich war in Paris, direkt neben der träge fliessenden Donau.
Auf dem Gymnasium war mein Englisch bald genauso gut wie mein Französisch. Und das kam so: Meine Eltern fuhren mit mir und meiner kleinen Schwester in die Ferien nach Italien. In ein Hotel in Lido di Jesolo, das voller mit Engländer was. Mit deren Kindern spielte ich zwei Wochen lang am Strand. Da gab es Dawn Heyman, Tochter eines Anwalts aus Birmingham, ich erinnere mich, dass sie eine Hasenscharte hatte, etwas, was mich überhaupt nicht störte, mich beeindruckte ihr englischer Humor. Sie machte mir in ihrem Queen´s English Frankie goes to Hollywood plausibel. Ich sonnte mich mit ihr am Pool, sie spielten den Hit „Relax, don´t do it“. Ich hatte in meiner Unschuld nicht den blassesten Schimmer, was die Zeile „Relax don´t do it when you are about to come“, eigentlich meinte. Unterbewußt musste ich wohl geahnt haben, dass sich dahinter etwas verbarg. Und ich fragte Dawn, „what are they singing“. Etwas verschämt antwortete sie im Flüsterton, „it´s about an orgasm“. Ich wußte immer noch nicht, worüber genau sie redete.