Eine Sache der Form

Lord Darlington hatte zwei große Schwächen: Die eine galt hübschen, jungen Männern. Die andere war seine Abneigung gegen Gartenparties. Er wusste nicht, welche von beiden die Entsetzlichere war – da Gartenparties fast die einzige Möglichkeit waren, in die Nähe der Jugend zu kommen, nahm er entweder eine oder die andere Schwäche hingebungsvoll in Kauf. Es war ein ständiges Oszilieren zwischen Extremen, ein Umstand, der ihm nicht unbeträchtliche Seelenqual verursachte.

Nicht, dass es in seinen Kreisen für ungewöhnlich galt, innersten Wünschen zu folgen, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Und da er ein immer gern gesehener Gast war, bei den Frauen als charmant galt und bei den Herren als witziger Zeitgenosse, jedem Spass aufgeschlossen und er überdies als hervorragender Jäger galt, sah man ihm seine Schwächen nach. Nur manchmal, wenn er sich wieder einmal ein wenig zulange unter die Oxfordstudenten mischte oder allzu intensiv mit einem Adelsspross sprach, holten ihn seine Gastgeber ein und stellten ihm eine Debütantin vor, in der Hoffnung, den Lord wieder auf den rechten Weg zu bringen.

Die Herzogin von M. gab gerade an diesem Samstag eine ihrer berühmten Parties und halb London war gekommen und natürlich war auch seine Lordschaft eingeladen worden, seines Geldes, der Nähe zum Thron und seiner Sottisen wegen. Kurz, es hätte einer jener Nachmittage werden können, an denen der englische Adel harmlos die Gefahren des Kommunismus, das letzte Derby oder die bevorstehenden Parlamentswahlen in leisem Erschauern erörtern würde, hätte sich Darlington nicht in prekärer Lage befunden. Zum einen waren da die Neffen der Herzogin, beides Amerikaner, beide blond und strahlend, von jener Energie, die die ganze Welt als ihren Vorgarten ansah, noch unbeeindruckt von den Fährnissen des Lebens – Menschen, die den Sport liebten und in ihrem Lachen alles versammelten, was Darlington an seine eigene Jugend erinnerte und sie ihn schmerzlich missen liess. Dann natürlich der Gärtner, ein walisischer Junge, dessen Erdgebundenheit und Ergebenheit den herrschenden Klassen gegenüber, eine gewisse Dienstfertigkeit und unvoreingenommene Natürlichkeit ihn unter den Mitgliedern der Gartengesellschaft zu einer Erscheinung der Reinheit und der Ursprünglichkeit erscheinen liessen. Zuletzt der junge Earl of O., der gerade zu beträchtlichem Vermögen gekommen, soeben von seiner Grand Tour zurück war, seiner Reise durch die Kolonien, und immer noch ohne Braut.

Zum anderen suchte Darlington einen Erben. Er war kinderlos geblieben, hatte seine Frau, eine erste Jugendliebe, früh verloren und bewohnte seitdem allein das Stadthaus in London, eine Sommerfrische in Brighton und den alten Familienstammsitz in der Grafschaft Darlington, gar nicht weit vom Meer und mit seinen 600 Zimmern wenig geeignet, einem alleinstehenden Mann von Welt seine Einsamkeit zu nehmen. Er besass ein Palais in Monaco, ein Haus in Baden-Baden und ein Apartement in Paris, Anwesen mithin, die er höchstens einmal im Jahr besuchte und nur, um der englischen Bourgoisie und ihrer Bigotterien zu entfliehen.

Er hatte gerade mit der Herzogin eine Partie Croquet gespielt, sie natürlich gewinnen lassen und war nun am Tennisplatz im Begriff, sich den beiden Amerikanern und dem jungen Earl für ein Doppel anzubieten, was ihn in der Teegesellschaft wahrscheinlich lächerlich machen, ihm selbst aber für einige Zeit unsagbares Vergnügen bereiten würde. Der Gärtner schnitt in Sichtweite die Hecken, und während das Match sich entspannte, fühlte sich Darlington frei und so schwebend, wie er es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Er schlug mit federnder Leichtigkeit auf, harmonierte mit dem Earl auf seiner Seite, ward von allen „Darling“ gerufen und fand sich nach dem Spiel, das er natürlich verloren hatte, neben einem der Amerikaner auf dem Rasen wieder. Der lag neben ihm, wie es Knaben an einem schönen Sommertage nach dem Bade tun mochten, und lehnte seinen Kopf an Darlingtons Schulter, um der Sonne sein ebenmäßiges Gesicht zuzuwenden, die alles in einer Atmosphäre der Freiheit, der Lässigkeit und mit einem Hauch zarter Sorglosigkeit überstrahlte. Darlington kannte den Jungen schon aus Kindertagen, strich ihm über das blonde Haar und genoss die plötzliche Nähe, eine Nähe, die er längst verloren geglaubt und die ihn an seine Tage in Cambridge gemahnten, als alles so unverdorben, rein und neu erschien – die anderen Gäste waren längst ins Haus gegangen.

„Jeffrey“, sagte Darlington leise, „Jeffrey, ich werde Ihnen wohl meinen gesamten Besitz vermachen.“ Der Angesprochene hob verwundert den Kopf, wendete sich um und betrachtete den einsamen, alternden Lord in einer Mischung aus Neugier, Vertrautheit und Freude. „Sie sind“ fuhren seine Lordschaft fort, „seit langem die angenehmste Gesellschaft, derer ich mich versichern durfte, meine Angelegenheiten erfordern der Ordnung, und unsere Freundschaft hat mich in der Überzeugung gelassen, dass Sie meines Namens und meiner Stellung würdig sind. Ich bin nicht unvermögend und ich wäre untröstlich, sollten meine irdischen Habseligkeiten samt Titel der Krone anheim fallen, damit ein windiger Börsenmakler, ein durchschnittlicher Schauspieler oder kriegsmüder General in den Adelsstand erhoben werden kann. Ich habe meinen Anwälten die nötigen Weisungen gegeben und – ihre Zustimmung vorausgesetzt – alle notwendigen Schritte zu einer Adoption eingeleitet. Wenn Sie um Bedenkzeit bitten, so soll es mir recht sein, ihren Bruder jedenfalls werde ich auch begünstigen und gewissermassen macht es mir nicht wenig Spass, alles, was mein, einem Kind Amerikas zu hinterlassen, da mich England schon lange verloren hat.“

Jeffrey aber, der Angesprochene, setzte sich auf, gab Darlington einen flinken Kuss auf die Stirn, umarmte ihn wortlos, erhob sich nun vollends und sah auf den Lord leise lächelnd herab. „Ich kann das nicht annehmen, ich habe es nicht verdient“, sagte der Junge und Darlington blickte zu ihm hinauf und versicherte, dass in all den Jahren niemand ihm je begegnet sei, der seinen Nachlass mehr verdient habe als er: „Sie haben mich, ohne es zu wissen, glücklicher gemacht, als jede Saison in London und alle Ballschönheiten der letzten Jahre. Seien Sie versichert, ich handele nicht überstürzt. Mit dem Sitz im Oberhaus könne Sie es halten, kannst Du es halten, wie Du willst und die Kunstsammlung magst Du in Übersee verramschen oder einem Mädchen zum Geschenk machen, ganz, wie Dir beliebt. Am liebsten allerdings wäre es mir, Du nähmest Dir die Freiheit, Stück für Stück alles für Deine Vergnügungen zu verschleudern, so wie ich es getan hätte, wäre ich bei rechtzeitig bei Verstand gewesen und hätte mehr Mut gehabt, meine Erziehung zu vergessen. Du wirst weit damit kommen und glaube mir, es ist genug für zwei Leben, ich empfehle Dir, ein wenig Spielsucht zu entwickeln und Dir teure Hobbies zuzulegen, Pferde etwa oder Automobile, die sollen ja bald groß in Mode kommen.“ Weiter kam er nicht, denn die Herzogin hatte den Gärtner geschickt, sie beide zum Tee zu bitten. So brach man denn auf, verliess den Park, langsam nebeneinander hergehend – die Sache allerdings ward nicht weiter erörtert.

Montague Darlington war zufrieden. Die Regelung seiner Erbfolge setzte ihn in eine Stimmung des reinen Erfolges, er nahm seinen Tee im geheimen Wissen um seine Güte und beobachtete Jeffrey im Salon, der in vollendeter Ruhe aus dem Fenster sah. Darlington schien es, als hätte er ganz allein Macht über die Zukunft des Jungen, und dieses Wissen erfüllte ihn mit Zuversicht und verborgener Genugtuung – er konnte es kaum erwarten, bis die Londoner Creme de la creme ihn für diese letzte, abenteuerliche Handlung verurteilen würde, bis ein Gewisper ansetzen würde, das nicht nachliess, bis auch der letzte über seine Exzentrik in Erstaunen versetzt war. Er war durchflutet vom Gefühl der Überlegenheit, von der Richtigkeit seiner Entscheidung und beschloss, noch am Abend seine Anwälte davon in Kenntnis zu setzen. Natürlich war noch die Zustimmung des jungen Mannes abzuwarten, aber dies war Darlington kein Hindernis in seinen Tagträumen – er hatte das getan, was ihm schon lange ein Anliegen gewesen und würde seine Schritte nicht bereuen. Gedankenverloren sah er in den Park, um den Gärtner beim Schneiden der Rosen zu beobachten, bis die Herzogin sich zu ihm setzte und ihn aus seinem Tagtraum riss.

„Sie haben es getan“, sagte sie, „ich hatte gleich den Gedanken, dass sie heute eine Dummheit machen würden. Mein Neffe ist ein Taugenichts, und er wird seine neue Stellung zu nichts anderem gebrauchen, als Schande über Ihren Namen zu bringen. Mein lieber Darlington, von allen Freunden sind Sie mir der Gefährlichste, der Unbedachteste. Sie wollen Schicksal spielen und setzen ihre Wünsche skrupellos um, wenn Ihnen danach der Sinn steht. Glauben Sie im Ernst, dass Sie straflos in das Leben eines anderen eingreifen können, um den unabänderlichen Lauf der Dinge zu beeinflussen, mit dem Dasein ihrer Mitmenschen nach Gutdünken zu verfahren? Womöglich sind Sie sich nicht darüber bewusst, dass Sie die Konsequenzen für Ihr Handeln tragen werden müssen, in Ihrem Falle über den Tod hinaus, und den haben Sie noch lange nicht zu erwarten. Ihr Hang, Ihre Leidenschaft wird Sie schon vorher vernichten.“ Darlington lächelte. „Meine liebe Rebecca, warum sollte es Ihrem Neffen anders gehen als mir, als ich in seinem Alter war und mein Vater unverrichteter Dinge starb? Denken Sie ich hätte mir meine Rolle gewünscht? Mein Leben wäre anders verlaufen, wäre ich nicht der Erstgeborene gewesen und nichts bereitet mir mehr Genugtuung, diese Last weiterzureichen. Geld hat mir nie etwas bedeutet. Soll Jeffrey doch selbst sehen, was es mit ihm anrichtet. Ich halte ihn für fähig, mit seinen neuen Möglichkeiten ein völlig verworfenes Dasein zu führen. Vielleicht aber, und das ist meine Hoffnung, wird er sich ändern. Er wird womöglich den Drang fühlen, Gutes zu tun – eine Fähigkeit, die ich jetzt erst und mit meiner letzten Handlung zu erreichen gedenke. Warum ihn einer Anstrengung unterziehen, einer quälend langsamen Karriere, einem vernichtenden Kreuzzug um all das zu erreichen, was ich ihm sofort in die Hände legen kann? Seine Jugend, das Licht, das noch in seinen Augen glänzt, würde stetig und grausam zum Erlöschen kommen – und nichts anderes beabsichtige ich: dem rechtzeitig entgegen zu wirken.“ „ Mein lieber Freund, Sie sind und bleiben ein hoffnungsloser Idealist“, sagte die Herzogin lächelnd und erhob sich, um sich wieder Ihren Gästen zu widmen. In einem einzigen Rascheln rauschte sie davon. Darlington blieb allein und gab sich einer Zigarre hin.

Jeffrey wusste nicht, wie ihm geschehen. Das Gespräch im Garten schien ihm wie ein Traum. „Ich werde nie wieder so unschuldig sein können, wie ich es vor diesem Moment war. Ich werde mich verändern, und die Welt wird mir anders begegnen, und eben das wird furchtbar sein“, dachte er. Und auch er blickte hinaus in den Garten. Der junge Gärtner aber beendete seine Arbeit an den Rosen. Er hatte einen riesigen Strauss geschnitten, den er jetzt über die Terrasse trug, um ihn der Herzogin zu präsentieren und Anweisungen nach seiner weiteren Verwendung zu erbitten. Er war stolz auf seinen Garten und sah das Bouquet in seinen Händen mit heimlicher Wehmut – die Rosen würden langsam aber unaufhaltsam verblühen. Er betrat den verlassenen Salon und suchte nach einer Vase, bis er im Schatten eines Vorhangs Lord Darlingtons gewahr wurde. „Haben Euer Lordschaft noch einen Wunsch?“ fragte er, obwohl es ihm nicht zustand. Der Anblick des einsam dort sitzenden hatte sein Mitleid erregt. „Nur einen. Bleiben Sie, wer Sie sind“, sagte Darlington leise. Er betrachtete den jungen Gärtner mit traurigen Augen. „Sie müssen es mir versprechen. Schneiden Sie ihre Rosen und machen Sie Sträusse daraus, pflegen Sie ihre Beete und Rabatten, die Hecken und Büsche. Bleiben Sie, wer Sie sind.“ Und unter den verwunderten Blicken des jungen Gärtners ging Darlington davon, verabschiedete sich von der Herzogin, sah noch einmal zu Jeffrey hin und bat darum, anspannen zu lassen. Jeffrey aber lief ihm nach ins Entree, während Darlington nach seinem Mantel verlangte: „Ich bitte Sie, Euer Lordschaft, Ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken. Ich flehe Sie an, vermachen Sie mir nichts als Ihre Freundschaft – Sie würden mich schon damit glücklich machen“, und Tränen standen in den Augen des Jungen. Darlington aber streifte sich seine Handschuhe ab und griff nach der Hand Jeffreys. Er schwieg. Er strich eine blonde Locke aus dem Gesicht seines heimlichen Geliebten. Niemand würde je von seinen Gefühlen erfahren. Er wandte sich ab und ging ohne ein weiteres Wort. Am Abend aber, als er in seinem Arbeitszimmer seine Papiere und Korrespondenzen ordnete, war Darlington stiller als sonst. Eine eigentümliche Ruhe überkam ihn. Und mit einer ihm neuen Gelassenheit und traumverloren sicher in seinem Tun setzte er einen Namen in sein Testament und unterschrieb. Es war der Name eines Jungen aus Wales. Eines Jungen, dem Blumen über alles gingen. Saturday, April 29, 2006, 19:49

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