Einst war das Taschentuch kostbar und voller Poesie. Heute schneuzt man sich prosaisch und wirft es weg

Es sind schweißtreibende Zeiten: Die Fußball-Weltmeisterschaft ist in vollem Gang, die Wahlen stehen unmittelbar bevor, und der Euro kommt Grund genug, sich darüber Gedanken zu machen, wie man der Sturzbäche Herr werden soll, die da noch rinnen werden von Stirn und Auge, wenn alles verloren ist. Oder auch der Freudentränen über mögliches Gelingen. Kurzum: Nie waren Taschentücher so nötig wie heute. Das ist tröstlich, glaubten wir das doch bisher hauptsächlich von: a) entschlossenem Handeln, b) niedrigen Steuern und c) dem Umschwung im Lande. Alles falsch: Nur Taschentücher können jetzt noch helfen.

Das war nicht immer so. Sechs Dutzend Taschentücher soll Anna Boleyn, zweite Gattin Heinrichs VIII. von England, in die Ehe gebracht haben, genützt hat es ihr nichts. Zur Enthauptung hatte sie keines dabei, schließlich waren Taschentücher im 16. Jahrhundert der reine Luxus und weder zum Schneuzen noch zum Blutstillen gut, geschweige denn fürs Schafott gedacht. Dafür war ihre Tochter, Elisabeth I., sonst wenig gnädig von der Natur bedacht, geradezu besessen von der Schönheit ihrer Hände und hatte deshalb stets ein Tuch zu Hand (engl.: hand-kerchief).

Und das ein oder andere Ungemach für Günstlinge und solche, die es werden wollten: Von ihr soll die Sitte stammen, mit dem Taschentuch zu winken oder es vor dem Angebeteten planvoll zu Boden fallen zu lassen, damit jener es aufhebe und in der Gnade steige. Manchmal fiel dann dennoch sein Kopf gar nicht weit von der Stelle, wo er das Tüchlein einer anderen aufgehoben. Pech gehabt, elisabethanisches.

Othellos Desdemona bestickte die ihren mit einem kleinen D, eine Sitte, die in Venedig aufkam, weil die Damen schon damals wenig zu tun hatten und die Tuche immer noch kostbar waren. Das D wird ihr dann auch zum Verhängnis, weil ihr Mann es bei einem anderen findet und sich darüber schon ein wenig schwarz ärgert. Vielleicht also kommt der Hang zum Papiertaschentuch in unserer Zeit aus jenen vorbelasteten Zeiten: Man will keine Spuren hinterlassen und hinterläßt auch keine, wenn man dem/der Liebsten ein Tempo leiht. Vielmehr man schenkt es, zum Schneuzen, ein ziemlich moderner Brauch. Denn bei Hofe (und der mußte es schließlich wissen) schneuzte man sich bis Mitte des letzten Jahrhunderts durchaus noch durch die Finger, auf den Boden. Erasmus von Rotterdam sah das anders: Er besaß laut Inventarliste schon 1536 neununddreißig Schneuztücher.

Der Hang des Adels, vor allem der Männer, zum prächtigen Zeremonialtuch, das keck in den Ärmel gesteckt oder um den Hals gewikkelt Zierde und Stand vermitteln sollte, war um 1789 herum in der Gegend von Paris eine rechte Dummheit: „Er hat ja ein Taschentuch“, riefen die revoltierenden Citoyens sich zu, wenn ein allzu eleganter Herr verdächtig wurde, der verhaßten Klasse anzugehören. Pech gehabt, revolutionäres.

Der Übergang vom bloßen Tuch zum Gebrauchsgegenstand erfolgte erst, als Ende des 18. Jahrhunderts der Schnupftabak in Mode kam. Und die nahe Verwandtschaft zur Serviette ist übrigens als erwiesen anzusehen: Kaiser Nero soll den Beginn der Spiele im Kolosseum durch das Winken mit einem Speisetuch dem ungeduldig wartenden Volk signalisiert haben. Der Brauch, zum Abschied mit dem Tuch in der Hand zu winken, sollte angesichts solch barbarischen Ursprungs vielleicht überdacht werden.

Der Herzog von Marlborough (ein Vorfahr Winston Churchills) schließlich ließ 1710 seine Parlamentsrede auf Taschentücher drukken und unters Volk verteilen, zu Propagandazwecken. Das ging damals erstens, weil die Tücher größer waren und zweitens, weil der Herzog als Politiker etwas zu sagen hatte. Für heutige Parlamentsreden unvorstellbar, obwohl die sich womöglich gut zum Schneuzen eignen würden. Vielleicht sind ja kleine Papiertücher zum Wegwerfen doch von Vorteil.