Die Präsidenten-Suite

AKT 1

(Eine Sitzgruppe, karg, vor großen Fenstern. Draußen eine Wasser-Parklandschaft. Elegant, aber isoliert)

Harold Wolfenstein (telefoniert): Ja, Herr Präsident, natürlich, Mister President, das muss dann alles ganz schnell gehen. Aber nein, Mr. P. das ist wirklich nicht nötig. Was wäre das denn für ein Signal, ich halte es da eher mit Machiavelli, unbedingt, ich muss den Opfern sagen, dass ich für die Arbeit keinen Pfennig bekomme.

Gladis Wolfenstein (kommt herein) drückt den Knopf einer Gegensprechanlage: Und dann, Gesine, bitte die Taubenbrust nicht vor neun Uhr, der zukünftige Staatssekretär des Finanzministers mag das nicht so. Gesine? Gesine? (keine Antwort, nur Rauschen)

H (ungehalten, wendet sich vom Telefon): Gesine hat heute frei. Und bitte nenne ihn noch nicht so. Noch ist er mein Senior Partner. Bitte bleiben sie einen Moment dran, Mr. President, meine Frau hat da eine Frage an mich, die keinen Aufschub duldet.

(Ein Möbelpacker räumt den Fernseher weg)

G: Harold, was geht hier vor.

H: Ich weiß gar nicht, wovon du redest, Schatz.

G: Harold, hier geht doch etwas vor. Was machen Sie denn da? Was passiert hier eigentlich. Wer sind diese Männer in unserem Haus?

H: Na wie sehen sie denn aus?

G: Wie Möbelpacker.

H: Ach. Gladis, ich bin stolz auf dich. Tatsächlich, es sind Möbelpacker. Und was haben sie da in der Hand?

G: Unseren Fernseher.

H: Vortrefflich, mein Schatz. Den Fernseher. Vollkommen richtig. Mr. President, bitte bleiben Sie kurz dran. Es geht um unseren Fernseher.

G: Dieser Raum. Diese Stunde. Die einzige Gelegenheit, an der eifersüchtige Ex-Partner, psychotische Jungunternehmer und anderer Dreck ihre Fresse halten, und ich meine hier auch durchaus deine Familie und Geschäftsfreunde, Harold, endlich einmal außen vor sind, Harold. Ich habe es satt, Harold. Und nun wird der einzige Hort der Ruhe und Vernunft, der Traumwelten und der Konsumverheißung hinweg gerissen, von mir. Von Menschen die aussehen, und was schlimmer ist, auch noch riechen, wie Möbelpacker. Meine Mutter hat mich immer vor dir gewarnt.

H: Hoffentlich auch vor dem Fernsehprogramm. Aber wie viele Sender hattet ihr denn damals in Europa?

G: Harold! Du bist nicht witzig. Ich hoffe du weißt, dass ich nicht lachen kann über deine Witze.

H: Mr. President, ja da bin ich wieder. Sie haben meine vollste Unterstützung. Ein schönes Wochenende noch. Jaja, wir sind auf dem Land. Auch ich freue mich schon sehr auf Montag, Mr. President. Eine große Ehre! Bis Montag also …

(Legt auf.)

G: Sie kommen gleich, Harold, bitte hör doch endlich auf zu telefonieren.

H: Wie du siehst, habe ich bereits damit aufgehört

Ein Möbelpacker: Die Anlage auch?

Mann mit Liste (guckt auf seine Liste): Die auch. Jetzt noch die Autoschlüssel für den Jeep, den anderen lasse ich ihnen noch. Für den Rückweg, nicht wahr? (Er lacht in sich hinein)

H: Jaja. Gladis. Würdest du uns bitte allein lassen. Ich muss mit dem Herrn hier reden.

G: Natürlich Harold. Vielleicht kannst du ihn ja dann auch gleich fragen, warum der Rotweinkeller leer ist.

H: Gladis, bitte.

(G ab.)

H: Müssen sie wirklich auch den Jeep mitnehmen?

(Er wirft den Schlüssel in die offene Hand des Mannes mit der Liste)

(Licht aus)

(Bernard Grey kommt rein, mit ihm seine Frau Veronica)

Veronica: Ah, diese Stille, diese Ruhe, diese – wenigen Möbel. Toll, wer war das? Habt ihr einen neuen Innenarchitekten? Ist er Japaner? Gladis, du musst mir den Namen deines neuen Geheimnisses geben!

H: Bescheidenheit, der neue Verzicht. Ganz in, in Soho, grade. Habt ihr noch nichts davon mitbekommen? Das wundert mich jetzt aber.

G ( stolz): Neuer Verzicht. Sogar der Fernseher ist weg.

V: Also, jetzt übertreibt ihr aber.

B: Den Fernseher?

G: Harold hatte gerade den Fernseher am Telefon.

H: Nein Schatz. Den Präsidenten. Aber setzt euch doch.

(Alle setzen sich)

B: Wie denn, was denn, den Präsidenten, also DEN Präsidenten? Reden wir von dem selben Präsidenten. Ich habe einen Mordshunger. Diese Landluft!

H: Du wirst doch sein nächster Staatssekretär, hört man an jeder Ecke.

G ( hysterisch): Ich bin so stolz auf ihn. Es gibt übrigens nichts zu essen. Verzicht und so.

H: Ich weiß, dass du gut für das Land sein wirst. Ein wenig zu gierig vielleicht. Aber na ja, das ist ja nichts, womit man nicht umgehen könnte in dieser Regierung.

G: Harold, bitte. (zu den beiden gewandt) Ich weiß nicht, was er hat, er ist so anders letztlich, so …

H: Gladis, bitte

G: Nichts zu essen.

B und V: Wie ?

G: Na ja, nichts halt.

B: Ich werde eh zu fett. Aber Harold, mal unter uns, findest du nicht, dass euer Einrichtungs-Japaner ein bisschen zu weit geht?

H: Wie, wie wer?

B: Der Japaner.

H: Von welchem Japaner redest du?

G: Ich bin so stolz auf ihn …

(Pause, allgemeine schweigsame Verwirrung)

V: Nun ich sammle ja jetzt.

G: Ach wirklich. Für wen?

V: Es gibt ja auch Menschen, denen es nicht so gut geht, wie uns.

H ( hustet): Es ist nichts, es ist nichts.

V: Menschen, die alles verloren haben, sogar ihre Wohnungen.

B: Also wenigstens eine Kleinigkeit zu essen …

G: Dann bestellen wir doch einfach etwas. Oder, Harold. Was meinst du?

H: Viel Erfolg, Schatz.

G: Hallo? Hallo? Operator? Merkwürdig … da muss irgend etwas kaputt sein.

H: Ich sagte doch bereits, viel Erfolg.

V: Nun ja und dann haben wir angefangen, Mäntel zu sammeln. Ich habe zwei Pelze gegeben.

G: Zwei Pelze. Es ist aber auch kalt geworden.

B ( nimmt sein Handy und bestellt): Ja, wir hätten gerne Sushi für vier Personen … bitte Eden Rock Nummer 54, in einer halben Stunde, sehr gut. Er kommt in einer halben Stunde.

G+V: Ah Sushi!

H: Ja, roher Fisch, ausgezeichnet.

B: Nun Harold, wir müssen einmal miteinander reden. So geht das ja wohl nicht weiter. Das Büro fragt schon nach dir. Wann willst du denn wieder zu uns kommen? Ich habe ja eigentlich einen Plan, also, Veronica meint auch…

V: Wirklich, Harold, du solltest dir das noch einmal überlegen, Benjamin meint auch, dass es das beste sei, wirklich das allerbeste, für dich, für Gladis

G: Also bitte, ich verstehe überhaupt nichts mehr gerade, also worum geht es denn? Natürlich gehst du zurück ins Büro, Harold, nicht wahr, es war doch nur ein vorübergehendes Einlenken, nicht wahr? Du wolltest doch nur ein paar Tage ausspannen, ist es nicht so, Harold.

H (schweigt er lässt den Kopf hängen): Gladis, du verstehst nicht…

G: Ach, jetzt verstehe ich wieder nicht? Ist es wieder das? Ich hätte mich nie auf einen Mann einlassen sollen, der ohnehin von meiner Dummheit überzeugt ist, ein Mann, der

H: Gladis, bitte

V: Gladis, Liebste, Beste, das hat doch überhaupt alles nichts damit zu tun, wir meinen doch nur, also ich und Benjamin meinen, es wäre doch jetzt das beste, also für euch einfach das beste, für dich und Harold …

B: … wenn ihr euch ein wenig auf dem Lande zur Ruhe setzen wolltet.

H: Daher weht also der Wind!

V: Und das ohne Fernseher?

(Sushi steht auf dem Tisch. Gladis versucht verzweifelt, die Kargheit der Situation zu überspielen. Harold blickt stumm vor sich hin und isst kaum, B ist von einer unsympathischen Hektik befallen, redet ununterbrochen):

B: Natürlich ist das alles nicht einfach, die Volatilität, der Aktienmarkt, die Deregulierungsbehörden. Man muss ganz stark aufräumen, schnell, durchgreifen, ich sage immer durchgreifen, also es ist mir ein Rätsel, wie wir das solange durchhalten konnten. Wer denkt denn heute noch nach, es gibt doch überhaupt niemanden mehr der noch nachdenkt. Aber das hört dann auf. Ich werde die Staffs antreten lassen, gleich am ersten Tag, und dann… und natürlich werden wir das dann auch nutzen können, Harold, wenn du dann im Büro bist, in allen Dingen natürlich unterrichtet wirst, zuerst, ich brauche deine Hilfe Harold. Ich brauche einen Gegenspieler auf dem Parkett, du weißt schon, du musst mit ihnen reden, du musst mein Sprachrohr sein, natürlich, ohne das irgendjemand etwas davon merkt, nicht wahr, wir wollen geschickt sein, nicht wie Roosevelt damals, ha ha ha ha! New Deal, ha ha ha ha! New Deal!

H (leise): Du widerst mich an.

G (geschockt, hysterisch): Ja, wirklich widerlich, diese Bürokraten, hahaha, nicht wahr,

B: Wie bitte? Ja, also, Harold, du musst dann natürlich erst einen Beratervertrag bekommen, natürlich wollen wir dich nicht verlieren, nicht wahr, aber du siehst ja selbst, dass du uns dann unverzichtbar wirst, unverzichtbar. Viel wichtiger ist jetzt, dass es dir wieder gut geht, nicht, dass du dich ein wenig entspannst, nicht wahr, dass du dann, also später, wenn ihr dann auf dem Lande wohnt und euch nicht mehr kümmern müsst um das Büro. Also ich dachte da an 16 Dollar pro Anteil, weißt du, wir müssen ja vernünftig sein…

G: 16 Dollar? Jahahaha, 16 Dollar pro Anteil, das ist doch etwas, nicht, also wirklich, das musst du doch zugeben, Harold, 16 Dollar, also wirklich, das nenne ich …

H: Gladis, halt den Mund. Bitte. Entschuldige Schatz. Bitte halt den Mund.

(G stiert ihn an. Nimmt die Serviette vom Tisch, presst sie an die Lippen, fängt an zu schluchzen, V, steht vom Tisch auf, nimmt G an den Schultern, beide ab. Die Männer bleiben schweigend zurück)

B: Du brauchst das Geld, Harold. Du weißt es, ich weiß es, Gladis weiß es. Das bist du ihr schuldig, ich bin großzügig, da hat sie ganz recht. 16 Dollar.

H: Statt 25. Ein satter Gewinn für dich. Ist mein Büro schon aufgelöst? Hast du den Beckmann schon umgehängt?

B: Den haben wir beide ersteigert, damals. Und ich wollte nicht, dass er von den Anwälten…

H: Umsichtig, sehr, umsichtig von dir wirklich.

(Das Telefon klingelt)

H: Entschuldige mich,

B: Aber, kannst du nicht später.

H: Nein. Wolfenstein?

(Lange Pause. H hört intensiv zu. Er geht auf und ab, während B Gesten der Langeweile macht. V kommt aus der Küche zurück. Sie sieht der Szene etwas abseits zu. Stummer Dialog zwischen ihr und Harold: geht es G besser? Kopfnicken.)

H: 3 Millionen. Das ist alles, was ich für sie tun kann. Es tut mir leid. Ja, so schnell wie möglich. Der Fond hat nicht mehr zur Verfügung. Ihr Mann war Investmentbanker, Mrs. Ashcroft, und es gibt mindestens dreihundert Fälle wie den ihren. Was soll ich denn einer Feuerwehrwitwe sagen? Es sind 3871 Einzelansprüche, Mrs. Ashcroft. Und nun darf ich sie bitten, ja, Mrs. Ashcroft, ich habe zu tun. Guten Abend, Mrs. Ashcroft.

G (ist aus der Küche zurück. Hört die letzten Sätze): Was war denn das?

B: Ja, was war denn das?

H: Das war meine Zukunft, Bernard. Unsere Zukunft.

(Schnitt. Taghell. Alle vier sitzen beim Frühstück )

V: Noch jemand Kaffee?

H: Kann ich die Butter mal?

B: Habt ihr nur Croissants?

H: Soll ich dir ein Bircher Müsli machen, Bernard?

B: Äh, tja,…

H: Heißt das ja, oder…?

B: Ähhmm … Fruity Loops?

G: Wann waren wir denn zuletzt in Genf? Harold? Lass uns doch bitte wieder in die Schweiz

H: Ja Gladis, gern, natürlich.

B: Ach, Gladis, das ist ja interessant, erzähl doch mal, wann wart ihr denn zuletzt in der Schweiz? Wart ihr auch auf den Caymans? Der Isle of Man?

G: Nein, ich verstehe nicht

H: Lass nur, Liebling. Das ist es nicht was er meint. Bernard, warum fragst du mich nicht selbst?

V: Bernard, du bist unmöglich

G: Warte, Genf, das war vor Mutters Geburtstag, ich glaube, im Februar, ja, dem 14. Februar.

B: Vor Ende des ersten Quartals. Interessant, sehr interessant.

H: Bernard, du bist ein Idiot.

B: Ach wirklich? Bin ich das? Nein, Harold. Ich war ein Idiot. Ich war ein Idiot darin, dir zu glauben. Ich hätte mich niemals einlasen lassen dürfen auf dich. Niemals. Schon damals, als wir die Firma gegründet haben, hätte ich zögern müssen. Aber lassen wir das.

H: Ja, lassen wir das, Bernard.

B: Und? Wie viel hast du mitgenommen, in deinem Köfferchen, in der Maschine, mhm?

H: Nichts. —— willst du nun ein Müsli, oder was?

B: Danke, mir ist schon schlecht.

( B mischt wirr Cerealien durcheinander)

Ach. Das ist sie doch, die so genannte Sonnenseite des Lebens: Teure Hotels, dicke Mietwagen, viel fliegen, Business-Class und der ganze Quatsch. Das, was dich nach spätestens einem Jahr total langweilt: Damit das wirklich Amusement ist, brauchst du nämlich Zeit, geiles Wetter, nen Pool daneben und vor allem ne scharfe Lady.

G: Wenn ich dann nachts Reportagen über die Zwei-Klassen-Gesellschaft sehe, in denen dieser Lifestyle abgelichtet wird, denke ich immer nur: wie langweilig..

H: Oh, was muss ich bemerken? Selbstkritik, ein Anfall?

B: Lass nur.

H (nimmt Buch aus dem Regal, zitiert): „Ein sehr fleißiger Rechtsanwalt, der oft zwölf Stunden am Tag oder mehr arbeitete und behauptete, er sei von seinem Beruf so in Anspruch genommen, dass er keine Langeweile kenne, hatte folgenden Traum: ´ Ich sah mich an meinem Schreibtisch im Büro sitzen, aber ich hatte das Gefühl, ein lebender Leichnam zu sein. Ich höre, was vorgeht, und sehe, was die Leute machen, aber ich habe das Gefühl, dass ich tot bin und dass mich alles nichts mehr angeht´.“
Ein Buch aus Europa, Bernard, Erich Fromm, die Anatomie der menschlichen Destruktivität. Ein schönes Buch. Ich möchte es dir schenken!

B: Lass nur. Jeden Morgen dasselbe. Con Variationi. Ich stehe nackt im Badezimmer und betrachte mein Gesicht in dem getönten Kristallspiegel. Es ist noch dunkel draußen. Ich ziehe mich an und trinke ein Glas Grapefruitsaft. Während ich meine Krawatte – Cerutti 1881 – binde, rufe ich Rolf an. Rolf ist mein Taxifahrer. Seit knapp drei Jahren fährt er mich jeden Montag morgen zum Flughafen. Anfangs dachte er noch, er müsste mich dabei unterhalten. Jetzt weiß er, dass er mehr Trinkgeld bekommt, wenn er ruhig ist. Ich bin Gründer einer großen Unternehmensberatung und ich befinde mich auf dem Weg zur Arbeit.
Montag morgen ist immer spitze!
Telefonisch einchecken, Ticket aus dem Automaten ziehen und total sauer sein, wenn man nicht den Sitzplatz 1A bekommt. Alles andere ist nämlich für Schwächlinge. Dann musst du den „Walk Of Shame“ antreten. Durch den Flieger! Und das ist die Höchststrafe, weil dich alle so mitleidig angucken. Ich frage mich, wie das die Leute durchhalten, die Economy fliegen. Die müssen ja jeden Morgen die totale Sinnkrise kriegen… Kein Tourist kennt die Hierarchie in Flugzeugen.
Ganz oben steht der „Hon“. Den höchsten Status bei der British Airways oder Lufthansa kennen nicht mehr viele, aber inoffiziell gibt es ihn noch. „Hons“ sind Prominente oder Senatoren mit einer unglaublichen Ansammlung von Statusmeilen. Im Zweifel zu viele Projekte in Brasilien oder Kuala Lumpur. Oder in der Schweiz.

H: Nimmst du eigentlich noch deine kleinen Pillen? Diese kleinen rosa Pillen?

B: Den regulären Senator erkennst du an den rosa Pillen, äh ich meine an dem roten Schild am Koffer. Da steht nicht etwa der Name drauf, sondern da ist die goldene Senator-Karte drin, damit die Stewardessen sofort erkennen, mit wem sie es zu tun haben.
Der „Frequent Traveller“ hat ein silbernes Schildchen und du fragst dich, warum er es überhaupt an sein Gepäck heftet – wahrscheinlich aus Angst, seine Koffer zu verlieren.
Bei uns, den Jungs in den dunklen Anzügen heißt Silber: Entweder Frischling oder zuviel Zug gefahren – wahrscheinlich nach Washington und Boston.
Senatoren werden nur in Reihe Eins mit Nachnamen angesprochen.
In Reihe Eins heißt es: „Guten Morgen Herr Grey, was möchten sie heute lesen?“
In Reihe Zwei heißt es nur noch: „Welche Zeitschrift möchten sie gerne haben?“
Versteht ihr jetzt, wie wichtig es ist, am Montag morgen in der ersten Reihe zu sitzen?

H: Vor allem in der Concorde.

B: Neben Kissinger? Da wird’s eng. Wie auch immer. Du sitzt auf deinem Platz, hast schlechte Laune und verweigerst erst einmal die Nahrung. Das einzig Erfreuliche ist der Gedanke an dein Meilen-Konto und den Freiflug, den du vielleicht in fünf Jahren in Anspruch nehmen kannst. Davon träumst du dann morgens um acht, während die Maschine abhebt: Urlaub, Singapore Airlines, First Class und Stewardessen beleidigen.

V: Bernard, Du ekelst mich an, du Flasche!

G: Noch jemand Kaffee?

B: Aber Montag morgens ist man noch zu müde zum Stewardessen beleidigen. Da schläft man einfach nur ein. Auf Platz 1 A.

H: Das war doch immer dein Platz.

B: Wenn Du nicht mit geflogen bist. Dann musste ich nämlich am Gang sitzen. Neben dir. Und dir die Akten halten. Weil du immer mit drei Ordnern gearbeitet hast. Ich habe es gerne getan. Weißt Du warum? Weil ich dich liebe Harold.

G: Also, ich glaube, das geht jetzt wirklich zu weit.

H: Gladis, bitte lass ihn doch reden. Vielleicht hilft es ja endlich.

B: Immer der Verständnisvolle. Immer der Kontrolleur. Ich weiß nicht, wie du das machst. Ich weiß es wirklich nicht. Einmal, wir waren in Dubai, habe ich einen Aschenbecher mitgenommen, aus dem Interconti. Ich habe dich angeguckt, wie ich ihn mir in die Tasche schob. Und in deinem Gesicht war nichts als Verachtung, Harold. Für meine moralischen Fehler. Es war ein fucking Aschenbecher für 2 Dollar, Harold. Es war ein Witz. Ein Scherz. Aber so hast du das Leben ja nie gesehen.

H: Was für ein Aschenbecher?

B: Manchmal merkst du erst nach acht Stunden, dass du acht Stunden regungslos in genau der gleichen Position verharrt hast. Und deine Augen fangen an zu brennen, weil du auch die gesamten acht Stunden nicht geblinzelt hast. Dein Rücken meldet sich, wenn das Telefon klingelt. Dann fängst du an zu träumen. Von Sport, von Frauen, dem Leben, der Welt, dem World Trade Center und du bist dir sicher, dass sogar ein Platz auf einem Stein in Afghanistan jetzt angenehmer wäre, als dieser Bürostuhl.

H: Schön, dass du das ansprichst. Jetzt sind wir doch gleich beim Thema. Auch der Präsident ist genau deiner Meinung, aber fahre bitte fort …

B: Und das ist ein schönes Bild, denn das ist noch einer der besseren Tage. Einer der Tage, an denen dich alle in Ruhe lassen. An den meisten Tagen bist du an der Front. An der Front geht es um Geld. 20 Millionen Dollar, 100 Millionen Dollar oder eine Milliarde Dollar. Man nennt das: Kostenlücken schließen. „In and out“, „alles aus der Bude rauszerren“.

H(angewidert): Rauszerren, rauszerren, allein schon das Wort: rauszerren!

B: Wie das geht? Erst setzt du das Target und dann machst du deine Jungs scharf. Einen für den Einkauf, den anderen in die Fertigung, den nächsten in den Vertrieb. Wenn sie davon zurückkommen, haben sie so ein Leuchten im Gesicht und ein paar Familienväter keinen Job mehr.

H: Hast Du jetzt endlich deine Krise? Ich fass es nicht!

B (äfft ihn nach): Hast Du jetzt deine Krise? Hast Du jetzt deine Krise? Hast Du jetzt eine Krise? Dann wird weiter reduziert. An einem Tag 2 Millionen Dollar, am nächsten noch mal so viel und so weiter. Jeden Tag. Wenn du Glück hast, geht was im Einkauf. Da guckt man immer zuerst, ob was zu holen ist. UPS zum Beispiel hat ein Einkaufsvolumen von ein paar Milliarden Euro – vom Kauf der LKWs bis zum Kuli für die Tippse. Spar da mal ein paar Prozent ein – so viel Personal kannst du gar nicht feuern.

H: Ich fass es nicht!

B ( in sich versunken): Du gehst durch Werke.

G: Von was für Werken redet er?

H: Von den Werken des Herren!

B: Die Werke … du guckst sie dir nen halben Tag lang an und am nächsten Tag bekommt der Werksleiter ein Fax auf dem steht, wie viel er einzusparen hat. Da steht dann beispielsweise 1,3 Millionen Dollar und der ruft dich an und fragt, ob du vielleicht nen Dachschaden hast. Und dann erklärst du ihm das Ganze. Das war’s eigentlich.

V: Ach so, das war’s.

B: Zum guten Schluss bastelst du noch eine neue Struktur. Eine Managementebene weg, Kapazitäten final justieren (macht noch mal 3 Millionen Dollar), das ganze mit dem Vorstand abstimmen und es gibt ein paar mehr, die unsere Sozialkassen belasten.
Für so ein „Blutbad“ gibt es tausend Begriffe – Kapazitäten reduzieren oder freisetzen, ausphasen, outcounceling und so weiter. Ich nenne das immer FTEs 100% variabilisieren.
Dann machst du auf deinem Papier einen dicken Strich.

H: Bernard, komm doch zurück zum Thema. Ich muss dringend mit dir reden. Ich spüre sehr viel Hass in dir.

B: Ob mich die Leute in den Firmen hassen? Na ja, den Job machst du bestimmt nicht, weil du der Mitarbeiter des Jahres werden möchtest. Wenn du Glück hast, gibt es vom Vorstand ne Einladung zum Essen, weil du ihm die unangenehmen Arbeiten abgenommen hast.

H: Und was ist mit Gefühl? Mit Mitgefühl? Mitgefühl, Bernard. (schreit) Mitgefühl !

B (nachdenklich): Emotionen dienen in meinem Job nur zur gezielten Manipulation. Manchmal ertappe ich mich dabei, Dinge zu tun, die ich gar nicht tun will, die aber getan werden müssen. Es ist schon erschreckend, dass Boshaftigkeit und Kälte so leicht zu erlernen sind. Aber es ist doch nun mal wichtig, sein Gegenüber in drei Minuten zum Weinen bringen zu können. Das ist Handwerkszeug, verdammt! Was ist das eigentlich, was da läuft, was hören wir hier?

H: Ashkenase spielt Brahms. Oder Gilels spielt Schumann. Möchtest du es genau wissen?

B: Nein, das reicht mir. Es sind Juden: Geist, Geld, Genie!

H: Aber das wusstest du doch alles. Das wusstest Du doch schon in Harvard. Und du wolltest es immer sehen. Du wolltest dein Geld damit verdienen. Du hast dein ganzes Leben so verbracht.

B: Und jetzt bin ich 50 Jahre alt und mein Leben ist vorbei. Und mein Partner hat 25 Millionen Dollar in die Schweiz geschafft und will seine Anteile an meinen größten Konkurrenten verkaufen.

G: Harold, ist das wahr?

B: Weißt du, was ein Full Time Equivalent ist, Gladis? Von so etwas hast du noch nie gehört. Es ist ein Mannjahr, Gladis.

G: So was muss ich nicht wissen.

B: Meine Kollegen sind alles ziemlich junge, karrieregeile Typen. Irgendwas zwischen 25 und 35. Mehr Männer als Frauen. Viele von denen sind schon verheiratet. Viele saufen. Koks und Nutten gibt es auch, darüber wird allerdings nicht geredet. Berater sind nun mal in der Regel Männer ohne Moral, die nachts einsam in Kingsize Hotelbetten liegen.

H: Es gibt ein paar Regeln in unserem Geschäft, die du ziemlich schnell kapierst.
Regel Nummer eins: Keine Schmerzen! Du darfst nicht mal zucken, wenn ein Kollege dir eine glorreiche Geschichte erzählt, um dir zu suggerieren, dass er der geilere Typ von euch beiden ist. Denn darum geht es in der Regel. Wenn es richtig weh tut, dann setz einen oben drauf. Sicherer und wirkungsvoller ist aber, ihn mit Ignoranz und demonstrativer Langeweile zu strafen. Am besten ist, du schläfst ein, während er redet. Das können aber nur die ganz harten Typen. Es geht immer darum, dem anderen klarzumachen, dass man härter ist als er. Ganz beliebt ist auch, Leute für sich springen zu lassen, am besten nach 22:00 Uhr. Danach zusammen einen trinken bis 2:00 Uhr, den nächsten Termin für morgens 7:30 ansetzen und sich mit „bis gleich“ verabschieden.

B: Regel Nummer zwei: Wenn die miserable Performance eines anderen auf dich abzufärben droht, dann mach deutlich, dass das Problem auf keinen Fall bei dir liegt. Da gibt es verschiedene Wege. Wichtig ist, dabei nie direkt über den Leitwolf zu gehen. Optimal läuft die Sache natürlich, wenn du im richtigen Setting innerhalb von drei Sekunden die Logik auf dem Flip-Chart besser erschließt, als dein Gegenüber nach zehn Tagen Arbeit.

H: Wie unsere Kunden so sind? Stell dir jemanden vor, der in nem Bürohochhaus acht Stunden am Tag arbeitet. Im Zweifel sehen die genau so aus, wie Sachbearbeiter im Finanzamt. Ganz normale Spießer, Gladis. Wie früher, wenn du zu Besuch bei irgendwelchen Tanten warst und der Papa kam die Treppe runter. Und du hattest vorher gehört, der Papa hat irgendwie Asche. Ich stell mir das immer so vor: der hat zu Hause zwei Kinder, die sind 15 und 18 und lassen sich bumsen von so Typen …

G: Harold!

H: … lassen sich von so Typen bumsen, wie man selber früher war.

G: (resigniert) Kaffee? Irgendwer? Hier?

H: Papa kommt die Treppe runter mit kurzen Hosen und Mutti ist dicklich, hat Dauerwelle und die beiden haben so ihren Rhythmus seit 15 Jahren. Und er geht jeden Morgen in seinen Bürohochhausbunker. Ganz normale Leute halt. So wie wir.

B: Jeden Morgen sitzt du im Hotel vor einem immer gleichen, riesengroßen Buffet und isst immer das Gleiche. Einfach, weil du keine Zeit hast, darüber nachzudenken, ob du mal was anderes essen willst.

H: Es ist so furchtbar. Ich hasse es. Ich kann das nicht mehr machen. Das schlimmste ist die Schwerindustrie!

V (tut interessiert): Was hast du denn gegen die Schwerindustrie?

B: In der Schwerindustrie isst du mittags in Kantinen. Wenn du ne Bank berätst, ist das anders. Die sind in Städten und du kannst dir aussuchen, wo und was du essen willst.
Aber in der Pampa gibt es Kantinenfraß. Der Ablauf ist genau getaktet: reingehen, Tablett nehmen und einen Riesenberg drauf kriegen, weil die natürlich glauben, du bist genau so ein Bauarbeiter, wie alle anderen hier. Und das isst du natürlich in genau fünf Minuten, weil alle total schnessen, äh, ich meine schnell essen, besonders wir. Wir schaffen es, unsere drei Gänge: Suppe, Hauptspeise, Nachspeise plus einem halben Liter Cola in sieben Minuten zu verspeisen. Das fühlt sich danach so an, als hätte dir jemand einen Gewehrkolben in den Magen gerammt.

H: Und Nachmittags in den Meetings musst du immer diese Kekse essen. Diese ewig gleichen Kekskompositionen! Ich glaube weltweit hat sich irgendein Sadist überlegt, die immer gleich zu gestalten. Das sind immer vier mal vier, also sechzehn Planquadrate. Du kannst blind rein greifen und weißt genau, welchen Keks du erwischst.

B: Abends gibt es verschiedene Varianten.

H: Entweder Delivery oder es wird gelost und der Verlierer holt Junk-Food. Das isst du dann an deinem Platz, weil du sonst überhaupt nicht klarkommst. Und dann fettet nach drei Jahren dein Rechner total ein von dem vielen schäbigen Essen, das du dir reinziehst und dabei weiter tippst. Abends essen gehen geht gar nicht, weil du dann runter kommst. Regel: Du darfst nie dein Büro verlassen!

G +V: Die kennen wir.

B: Wenn es das Projekt aber zulässt, marschierst du in den 24-Stunden-Markt, was im Zweifel noch die gesündeste Variante sein kann. Du kaufst Schwarzbrot, Wurst, Käse und ne Tomate und dann kannst du auch locker wieder durcharbeiten bis zwölf oder ein Uhr.
Das ist mir am liebsten, weil du dadurch immer noch den Touch der Gesundheit mit rein bringst. So was zum Gewissen beruhigen: ein Salatblatt oder ne Multivitamintablette

G: Das hört sich alles so furchtbar deprimierend an. Warum hast du mir das nicht schon viel früher erzählt. Was müsst ihr gelitten haben, ihr Armen. Was ist mich nur gerade frage: Hat das was mit den Fesselsachen zu tun?

H: Leider, meine liebe Gladis, hast du überhaupt keine Ahnung.

V: Was müsst ihr gelitten haben.

B: Was heißt hier haben? Ha! Also weiter geht’s: Ungefähr alle zwei Wochen kommt die „Wir-Machen-Alle-Mal-Früh-Feierabend-Um-Zehn-Und-Gehen-Zusammen-Essen-Nummer“ vor. Das bedeutet, du gehst irgendwo in ein sehr teures Restaurant und bist der anstrengendste Gast des Jahrtausends. Das fängt damit an, dass du nie ein Gericht von der Stange bestellst, sondern dir immer den teuren Ramsch, customized.
„Ich hab gesehen, Menü 3 gibt’s auch mit dem Salat, ach nee, vergessen sie ´s ich nehm Menü 5 aber mit dem Braten von 3, oder…“ und so weiter.
Und wenn was falsch gebracht wird oder nicht alles total schnell geht, wird die gesammelte Mannschaft zusammengefaltet: „Mein Gott, sind sie langsam und unprofessionell. Das kann doch nicht wahr sein.“ Da wird mit harten Bandagen gekämpft. Und am Schluss, beim „Hat´s Ihnen geschmeckt?“ ist die Standardantwort: „Na ja, ging so. Für 300 Dollar habe ich schon besser gegessen!“

G: Das ist ja furchtbar!

V: Wenn ich das gewusst hätte …

H: Ja, was denn …

G: Aber Harold, du bist so ein liebenswerter Mensch.

H: Nein, Gladis, weiß Gott nein. Ich weiß nicht, früher war es mir irgendwie noch wichtig, dass mich die Leute wenigstens ein bisschen mögen, vielleicht sogar sympathisch finden. In meinen paar Tagen Freizeit im Jahr versuche ich das ja auch. Aber während des Jobs gelten andere Regeln. Da geht es nicht um Sympathiewerte. (schreit) Schon gar nicht beim Essen!

V: Aber du reist doch so gerne, Harold. Du hast die Welt gesehen, ist das denn nichts?

H: Die Welt? Es ist total egal, in welcher Stadt man ist. Abgesehen vom Hotel. Großstädte machen deswegen mehr Spaß, weil sie nah am Flughafen sind, weil die Infrastruktur perfekt ist, also: Flughafen, Taxi, Büro, Hotel. Du brauchst keinen Mietwagen. Du musst nicht immer im gleichen Hotel pennen, kannst auch mal wechseln. Wir schlafen im Sheraton, Steigenberger, Hilton. Maritim ist zu billig und eher was für die Jungs, die in karierten Sakkos Fischstäbchen verkaufen. Eigentlich albern, denn du bist ja sowieso nur ein paar Stunden im Hotel und das nachts. Dann guckst du Fernsehen oder pennst deine vier bis sechs Stunden.
Das geilste Kundenbindungsprogramm hat Sheraton. Da bin ich Platin-Member. Das heißt, ich kriege in jedem Sheraton der Welt immer das beste zur Verfügung stehende Zimmer. Im Urlaub wohne ich also in der Präsidenten-Suite. Die ist in der Regel ziemlich großzügig angelegt. Mit zwei Badezimmern, Whirlpool, 5 Betten und Platz für 13 Bodyguards.
(flüstert zu Bernard)
Am besten ist es sowieso mit einer Frau im Hotelzimmer. Da kannst du dich einfach perfekt gehen lassen: man kann herumbrüllen und alles einsauen. Das kommt nur leider viel zu selten vor. Letztes Jahr war spitze. Da bin ich zu ner Tagung gefahren, war keine Sekunde dort, sondern nur mit der Nutte im Hotelzimmer. Ich habe auch noch keine Frau getroffen, die es nicht geil gefunden hat, sich in teuren Hotels bumsen zu lassen. Danach pennst du ein und morgens bestellst du für 70 Dollar Frühstück. Da gibt es keine, die darauf nicht steht, es sei denn du stinkst.
Und selbst dann nimmt sie das Frühstück mit.

G: apathisch. Aber, aber, aber.

V: Ich habe das Frühstück nicht mitgenommen!

H: Halt auch du, bitte den Mund. was weißt du denn schon?

(Strahlendweißes Licht)

AKT 2

(Bernard und Harold sitzen im Garten abseits vor einer Glasscheibe. Man raucht Zigarren. Gladis und Victoria laufen vor sich hinredend auf und ab)

V: Du liebst ihn doch. Ich weiß es. Ich sehe es an deinen Augen. Jedesmal wenn er mit Harold spricht.
G: Ich weiß nicht was es ist. Ich habe die Kontrolle verloren. Harold ist so anders geworden. Er hat sich verändert. Er ist nicht mehr derselbe, nicht mehr der Mann, in den ich mich verliebt habe.
V: Aber Bernard. Der ist der gleiche geblieben. Und deswegen kann ich ihn nicht mehr ertragen.

Es klingelt.

G verwirrt: Wer ist denn das. Soll ich aufmachen? Veronica, kannst du mal aufmachen?
V Sicher.

(Stimme aus Richtung der Haustür): Guten Tag. Ich wünsche einen schönen Samstag vormittag. Bitte entschuldigen Sie, dass ich hier so unangemeldet erscheine, Mrs Wolfenstein.

V: Ich bin nicht Mrs Wolfenstein. Kann ich Ihnen weiterhelfen. Ich weiß nicht.
R: Habe ich mich in der Adresse geirrt. Das ist doch Eden Rock hier.
V: Ganz recht. Gladis, kannst Du mal kommen? Hier ist jemand für Harold.
G kommt dazu: Ach Robert, Sie sind es. Was treibt Sie denn hierher. Hat er wieder?
R: Sie kennen ihn doch. Er war so schnell weg, da hat er den Koffer vergessen. Ich habe angerufen, aber es war immer besetzt

G zu V: Das ist Robert, Harolds Assistent, ich habe dir bestimmt mal von ihm erzählt.
V: Wie konntest du mir so einen charmanten jungen Mann vorenthalten?
G: Äh, ja. Willst du mal in den Garten sehen, nach den beiden? Ich glaube, ich habe Bernard rufen hören.
V ab.

G: Bist du wahnsinnig? Hier aufzutauchen?
R (versucht sie zu küssen): Ich musste dich sehen.
G: Spar dir den Quatsch. Ich habe dir doch gesagt, das es aus ist. Es ist ganz unmöglich. Ich kann nicht mit deinem Gehalt leben. Wir haben keine Zukunft.

R: Ach. für´s Bett war ich wohl gut genug. A propos, wo sind eigentlich eure Möbel? Und wann warst du eigentlich das letzte mal in eurer Stadtwohnung?
G: Ich weiß nicht, was du meinst.
R: Gladis, arme, kleine Gladis. Dein Mann wird ein Held und du weißt es nicht einmal. Du hast gar kein Apartment mehr in New York.
G: Es wird renoviert.
R: Hat er dir das gesagt.
H (tritt auf): Oh Robert, ich habe schon an sie gedacht. Sie bringen den Koffer. Das ist sehr freundlich von ihnen.
R (gibt den Koffer): Mr Wolfenstein.
H: Sehr freundlich. Gladis, kümmere dich doch ein wenig um unseren jungen Freund. Wenn Sie ein wenig warten, kann ich Ihnen gleich ein paar Briefe mitgeben. Wichtige Briefe, alle noch nach Washington. Heute Nacht, per Kurier, sie werden abgeholt werden. Im Büro. Ich hoffe, sie hatten für heute abend noch nichts vor? Es macht doch keine Umstände?
R: Äh ich wollte…
H: Sehr gut. Bis später dann. (ab)

G: Na wunderbar. Was ist denn das?
R: Champagner
V kommt rein: Na das nenne ich Timing.

Licht aus.

Die drei liegen besoffen auf dem Boden. Lallen. Ziehen Robert am Hemd. Rotgedimmtes Licht. Orgie. Boudoir. Erotische Spannung liegt in der Luft. Man wähnt sich unbeobachtet. Die Frauen kichern, Robert lockert seinen Krawattenknoten und zieht die Schuhe aus. Man sitzt auf dem Boden. Man raucht. Man spielt Flaschendrehen. Gladis ist dran.

G: Keine Götter, keine Motorkraft. Na, komm schon!“ höre ich ihn sagen. Sein Mund hat sich, glaube ich, nicht bewegt. Hinter ihm verschmelzen die Hintergründe der letzten Jahre zu irrwitzigen Kaskaden. Ich sehe Dünen ineinander rasen, tosende Bäche, schaumgeborene Fantasien.
„Komm … nun mach schon!“
Wieder bleibt sein Mund geschlossen, seine Stimme aber ist ganz nah an meinem Ohr. Ich bin erschöpft, glaube seit Tagen nicht mehr gesund geschlafen zu haben.
„Ist das noch die Simulation?“ frage ich ihn. „Sind wir noch in der Simulation? Alles scheint so real zu sein …“

V: I’m hungry for love. Noch ´n Kaffee, Schätzchen?

R: Nein danke. Ich bleibe beim Sprudelwasser.

G (kichert besoffen): Ein von digitalem Störfeuer stakkatiertes Brausen knistert in meinem Ohr. Ich erschrecke mich und brauche eine Weile bis ich merke, dass ich an die binäre Übersetzung seines spöttischen Lachens geraten bin.
„Du bist lustig“, er hat seine Stimme wohl mit der Klangeinheit in meinem Innenohr verknüpfen können. Seine Worte scheinen wie meine Gedanken.
„Ich bin bei dir“, sagt er … sagen sie.
Ich lenke meinen Blick in die Ferne. Wieder stürzen geometrisch strukturierte Hintergrundflächen in sich zusammen. Enden und beginnen gleichsam. Die Strukturen der Flächen scheinen lebendig, ich vermeine, die Energieflüsse zu sehen, die durch ihn durch reisen. Bei Bäumen habe ich so etwas schon gespürt, bei großen Bäumen, bei mir wichtigen Menschen, bei sehr kleinen Kindern auch, aber was ist das hier?
„Was geht hier vor?“ höre ich mich fragen. Habe ich das jetzt laut gesagt?
Wieder dieses zerhackte spottende Knistern von eben. Ich scheine ein lustiges Bild abzugeben.

R: Gladis, Du bist genial.

V: Wolken, Wolken, ein dichter Nebel aus Luft und Wasser. Diese Welt ist leider groß, muss ich denken. I´m leaving on a jetplane, don´t know when I´ll be back again. Warum bist du so weit weg?

R: Weil eure Männer in der Nähe sind. (rennt zur Tür, lauscht, guckt raus, schließt sie wieder.)

G: „Ja, verstehst du es denn wirklich nicht?“, sein Gesicht erscheint mir gemeißelt, während die Worte in meinem Gehörgang zerplatzen – oder halt, HALT ! Sind es nicht viel eher seine Gedanken? Kann ich seine Gedanken hören? Bin ich mit ihm, mit ihnen verbunden?

R: Reicht´s dir denn immer noch nicht?

G: Nein. Ich brauche Zeit zum nachdenken, aber alles um mich herum verändert sich ständig. Der Mensch ist doch nur ein Unterschiede wahrnehmendes Wesen, natürlich überfordert mich gerade alles.

R: Du willst doch nur gefickt werden.

G: Hart.

V: Aber gerecht.

R: Du bist auch gleich dran.
V: Das schaffts du doch nie, du Schlappschwanz. Warten wirs ab.

G: „Nichts, nein, rein gar nichts verstehe ich.“, stammele ich, während sich um uns herum eine Art aseptischer Sandwüste aufzubauen beginnt. (Sie dreht mit der Flasche, auf wen die Flasche zeigt, der wird geküsst. Sie nehmen es langsam nicht mehr so genau)

G: „Aber du wolltest das doch so. Du warst doch derjenige, der immer und immer wieder damit angefangen hat“, seine Stimme klingt nach wie vor ruhig, fast zärtlich. Dennoch glaube ich, Unruhe aus ihr zu lesen.

V: Ich sehe dich schon von weitem. Die drei Stufen nimmst du mit einem Satz. „Ich liebe dich, ich liebe dich so sehr“, flüsterst du in mein Ohr. Ich drücke dich, so fest ich kann.
Wieder sind Wochen vergangen. Eine andere Stadt, eine andere Jahreszeit, andere Knöpfe an den Uniformen, andere Straßenlaternen. Ich sehe auf die Straße.
Warum tun wir uns das an? Wo bleibst du nur?

R: Ich komme, ich komme. Ich bin doch schon da. Was willst Du denn?

G: Was soll ich gewollt haben? Ich habe überhaupt nichts gewollt! Ich bin müde. Warum sind wir immer noch in der Simulation?“
„Das ist nicht mehr die Simulation …“ schwarzer Tüll überschwemmt uns. Ich tauche unter, muss an meine Kindheit am Atlantik denken, schließe den Mund, wegen des zu erwartenden Salzwassers.
Ich halte die Luft an, während eine schwarz wattiere, unendlich weiche Welle über mir zusammenschlägt.
„Es war dein Experiment! Es war alles deine Idee! Du hast daran geglaubt, hast immer gesagt, dass alle Technik nicht so stark ist wie die Liebe. Erinnerst du dich denn nicht mehr? Die Liebe … die …“
„… Liebe …“, denke ich.

V: Ich starre seit Stunden auf das Telefon. Es ist kalt geworden. Alles friert, zittert wie unter einer Zentnerlast.

R: Ich wiege 95 Kilo, Schätzchen.

G: … Liebe …

V: Ich fühle mich so unvollkommen, so unfertig. Wieder starre ich auf ein Telefon, warte auf eine Stimme, die mir deinen Besuch ankündigt. Heute, ja heute werde ich es dir sagen …

G: Ein Gefühl durchbraust meinen merkwürdig lobotomierten Brustkorb. Da war was … langsam kommt etwas wieder … was hat das alles mit ihr zu tun … plötzlich ist er tausendfach da. Er scheint besorgt zu sein, so als hätte er sich auf etwas Ungewisses eingelassen. Der arme Junge!

V: Habe einen Film gesehen, ein technisches Museum besucht, einen Anzug gekauft und drei Tageszeitungen gelesen. Man könnte meinen, ich hätte nichts zu tun. Diesmal kommst du durch die Hintertür. Verdammte Paparazzi!

G: „… Liebe, Liebe … Die Kraft der bindenden Leere! Genau so hast du sie doch immer genannt, erinnerst du dich nicht? Die Kraft der bindenden Leere, dein Experiment. Wir beide. Bis in alle Zeiten … Das kannst du unmöglich vergessen haben, das glaube ich einfach nicht“, flüstert er mir in unendlich vielen Zungen zu.

V: Wir sind auf einen Berg gestiegen. Wäre ich Gott, würde ich die Sonne anhalten und jede Form von Zeit für immer einfrieren. Augenblick, verweile doch … Heute habe ich es ihm gesagt, und es ernst gemeint. Ich versuche nur lieb zu sein.

R: Du bist ganz lieb. Ich hab dich ganz lieb.

G: … die Kraft der bindenden Leere … wir beide … Was soll ich gesagt haben?
Du hast gesagt, dass alle Technik und alle Religion nicht annähernd das erreichen können, was die Liebe vollbringt. Dass wir diese ganzen Simulationen und digitalen Hilfsmittel gar nicht brauchen, wenn nur die Liebe da ist. Dass wir mit jedem und allem verbunden sind. Dass wir zwischen den Sternen reisen werden, zwischen den Zeiten sein, zwischen den Räumen … “, er holt tief Luft und lässt seine Worte im luftleeren Raum verklingen.
„Ich liebe dich“, flüstert er schließlich. „Deswegen bin ich hier.“

R: Ich liebe dich, deswegen bin ich hier.

V: Wieder allein. Keine Änderung und kein Ausgang in Sicht, muss das wohl mal wieder irgendwie überleben. Ich nehme den Seebarsch.

G: Sand rieselt aus dem Nichts heran, überflutet wiederum den schwarzen, durchlässigen Stoff. Er hat recht, wird mir endlich klar.
„Dann habe ich doch recht gehabt, oder?“, frage ich ihn leise, mir allem sicherer werdend.
„Das hast du“, für einen kurzen Moment verschwindet er aus meinem Blickfeld um dann direkt neben mir aufzutauchen. Wieder bemerke ich sein wie in Marmor gemeißeltes Profil. Diesmal berührt seine Stimme nicht mein Ohr, nein sie trifft direkt mein Herz und reist von da aus weiter.
„Das hast du. Du hast absolut recht gehabt.“
Ich nehme seine Hand. Sie ist warm.

R: Ich liebe dich, deswegen bin ich hier. (dringlich) Gladis, du mußt mit mir mitkommen. Ich meine es ernst. Dein Mann ist wahnsinnig. Und schlimmer noch. Er ist pleite.

(Schweigen, beide Frauen hängen verträumt ihren Visionen von der Liebe nach)

G: Ich weiß nicht, wie ich Harold helfen soll. Er ist nicht mehr der Alte. Das Strahlen, das er gehabt hat, dieses Glühen von innen heraus, dieses energetische.

R: Er ist pleite!

G: Erst gestern Abend, kurz bevor ihr kamt, da habe ich es wieder gesehen, und heute beim Frühstück. Aber er ist so destruktiv und ich glaube er will nicht mehr.

R: Und wahnsinnig!

G: Er wurde immer isolierter mit der Zeit. Erst dachte ich, es sind die Drogen. Ich habe sogar das Badezimmerschränkchen kontrolliert, aber da war nichts. Gar nichts.

V: Eine andere Frau?

G: Nein, das glaube ich nicht. Nicht einmal die Telefonlisten weisen darauf hin. Er geht auch nicht mehr in den Club.

R: Die haben ihn rausgeschmissen. Weil er gesagt hat, an der Bar, dass irgendjemand den Präsidenten in die Luft sprengen sollte.

V: Bernard macht sich auch Sorgen.

G (hellsichtig): Dein Mann macht sich Sorgen um sein Geld. Ich mache mir Sorgen um meinen Mann.

V: Sei nicht ungerecht. Immerhin sind die beiden Freunde.

G: Sie waren zumindest mal Freunde …

V: Ich verstehe das alles nicht. Irgendwas muss da passiert sein …

(Das Telefon klingelt. Alle fühlen sich ertappt, stehen auf, machen Lichter an. Robert zieht seinen Scheitel nach. )

G: Wolfenstein. Nein, Gladis Wolfenstein. Wer spricht? Bitte? Sie wollen sicher meinen Mann sprechen. Ich verstehe sie so schlecht. Wer ist gestorben? Ihr Mann? Das ist ja furchtbar, so beruhigen sie sich doch. Wann sagen sie? Kennen wir uns? Beruhigen sie sich doch bitte. Was für Geld? Versicherung? Sie haben sich bestimmt verwählt, doch, doch … Wolfenstein … sind sie sicher, sind sie sicher, dass sie Harold Wolfenstein sprechen wollen? Woher haben sie die Nummer? Mit der Post? Der Ausgleichsfond? Was für eine Tabelle? 64.000 Dollar? Für ihren Mann? Ich verstehe sie leider nicht. Sie tun mir so leid, so hören sie doch bitte auf zu weinen. Ich kenne meinen Mann, er wird ihnen helfen, ganz bestimmt. Jetzt beruhigen sie sich bitte. Er ist im Garten … bleiben sie dran … ich hole ihn. Nein, warten sie, ich bleibe dran … Veronica, Schätzchen, sei so gut und hole schnell Harold aus dem Garten. Sag ihm, es geht um irgendeinen Fond und da wäre eine weinende Dame am Telefon … beeil dich, bitte, nein nicht sie, ich habe mit einer Freundin gesprochen. Ah, sie haben sich etwas beruhig, sehr gut, da kommt er schon … ich gebe sie weiter. Gott schütze sie!

(H bewegt sich zügig zum Telefon, Bernard schlurft hinterher. )

H( nimmt den Hörer in die Hand): Mein Name ist Harold Wolfenstein. Ich muss sie bitten, bitte kurz dranzubleiben. Ich habe ihre Akte nicht parat. Bitte warten sie kurz.

(legt den Hörer hin, konzentriert sich kurz. Bernard tuschelt mit Robert)

H (zu den Damen): Schatz, Veronica, vielen Dank aber lasst mich doch bitte einen Moment ungestört telefonieren.

G: Natürlich, natürlich … hoffentlich kannst du ihr weiterhelfen. Wir müssen uns ohnehin umziehen.

H (souverän): Das kann ich.

(Gladis und Victoria ab. Fangen im Hintergrund an, sich umzuziehen. Großer Standspiegel. Robert fängt an zu spannen. Auch Bernard zündet sich eine Zigarre an, setzt sich auf den Boden, spannt zusammen mit Robert.)

B (leise): Du hast sie auch gehabt, oder?

R: Sie ist wundervoll.

H: Hören sie … jetzt bin ich ganz für sie da. Wie geht es ihnen? … Zuallererst möchte ihnen der Präsident sein tiefempfundenes Beileid aussprechen! Ihr Mann ist ein Held! Haben sie den Brief vorliegen? Sehr gut. Sehen sie die Nummer? Nein? Da muss eine Nummer sein. Ja, genau die ist es. Sagen sie mir jetzt bitte, welche Farbe die Nummer hat? Aha, und steht hinter den ersten drei Buchstaben ein F, ein P ein B oder ein T? Aha, ein F also. Das ist gut. Er war bei der Feuerwehr, das haben sie meiner Frau bereits gesagt. Verzeihen sie bitte, ich möchte ihren Schmerz nicht noch verschlimmern. Sie sind eine sehr tapfere Frau, ihr Mann ist stolz auf sie, da bin ich ganz sicher …

( lange Pause, Schluchzgeräusche von anderen Ende der Leitung)

Bitte, bitte, weinen sie doch nicht länger. 64.000 Dollar, ich weiß, gnädige Frau, ein Menschenleben ist nicht zu bezahlen. Nicht mit Geld. Nicht mit einem Staatsakt, nur der liebe Gott weiß, was sie jetzt durchmachen, Ma’am! Bleiben sie tapfer! Auch wenn es vielleicht schwer ist. Nein, ich kann da leider nichts machen, nein, ich kann auch die Hypothek nicht übernehmen, bitte verstehen sie doch. Unsere Mittel sind begrenzt. Wie viel Kinder? Wer studiert? Welcher Rentenfonds? Kapitallebensversicherung? Unfallversicherung? Nicht? Hören sie, es ist Sonntag, ich kann leider …..

( Verzweiflungsschreie)

… aber ich bitte sie doch. Es ist alles nur eine Frage der Zeit. Aber sie müssen auch Verständnis haben für meine Situation. Sehen sie, es gibt sicherlich ohne zu übertreiben 200 Familien in genau ihrer Situation, denen allen unser Mitgefühl gilt. Und die ebenfalls alle dringend finanzieller Unterstützung bedürfen. Und bald wird es auch einige irakische Familien in ihrer Situation geben, denen wir nicht helfen können … nein, der Irak ist auf der anderen Seite der Welt, nein, nicht das in Kalifornien. … bitte beruhigen sie sich … gut … gut … gut … richtig … ich bin genau ihrer Meinung. Sie haben Recht und auch der Präsident weiß, dass sie Recht haben. Neben mir steht, sie werden staunen, der designierte Staatssekretär des Finanzministers. Normalerweise ist so etwas so unüblich, das müssen sie mir glauben, aber jaja, Bernard bitte komm doch einmal her. Und vergiss dein Scheckbuch nicht! Und hier ist mein Assistent Robert. Er wird Ihnen diesen Scheck jetzt vorbeibringen. Sind sie zu Hause Mam? Gut, in drei Stunden wird er bei Ihnen sein, das verspreche ich Ihnen. Und denken Sie sich, er wird schon am Montag mit mir beim Präsidenten sein. Um zehn Uhr morgens. Dann werden Sie uns im Fernsehen sehen können.

(Licht)

(Victoria steht am Bühnenrand und schminkt sich, zum Publikum gewandt ab. Gladis bereitet im Hintergrund ein Essen vor, sie läuft hin und her, deckt den Tisch, schneidet Salatgurken, usw …)

V: Ich habe mich schon sehr früh dafür zu interessieren begonnen, was es ist, das Menschen antreibt. Welche kleinen Motoren in ihnen walten. Und in welche Richtung sie davonschnurren, wie ferngesteuert, wenn ihnen lediglich ein Schubs gegeben wird. Ein nichtiger Anlass, ein Blick, ein Wort zur rechten Zeit mögen ausreichen, manchmal genügt ein hinab fallender Katalog, oder auch ein Geldschein …

G: Veronica, du bist betrunken!

V: Ganz im Gegenteil Gladis, ich bin schon sehr lange nicht mehr so klar gewesen, wie heute. Ein Geldschein, den man diskret jemandem zusteckt: Mir war noch nie so recht erklärlich, wonach sich bestimmte Charaktere dann auf unabsehbare Zeit ausrichteten wie kleine Magnetnadeln, sobald ihnen jener Anlass gegeben war.

G ( Gurken schneidend): Ich bin draußen, nachts alleine. Die Landschaft erinnert an die schottischen Highlands. Grüne Hügel, düstere Atmosphäre, Nebelschwaden. Ich würde gerne runter ins Tal sehen, aber die Sicht ist zu verdeckt. Dunkle Vögel kreisen über meinem Kopf. Ich verjage sie mit einem Regenschirm. Es beginnt zu regnen.

V: Ich muss sagen, dass ich vor allem Frauen dabei beobachtet habe, wie sie schnurgerade dann so einer Eingebung folgten, einem Traum, einer Zeitungsnotiz oder dem lässig hingesagten Wort einer nahen Freundin — allerseltenst waren für derartige Impulse Männer zur Verantwortung zu ziehen — immer dann, wenn sie ihnen nur zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt zustieß, einem oft völlig irrationalen und für niemanden in der Welt nachvollziehbaren Timing folgend. Ich habe Wittgenstein, Foucault und Feyerabend gelesen und einige mittelalterliche Mystiker studiert, und ungezählte Abende mit Kommilitonen, Kollegen und Konkurrenten zugebracht, ohne der Frage auf den Grund zu kommen, ob Frauen einer Logik folgen.

G ( arrangiert den Tischschmuck): Ich bin mit Harold zusammen auf einer Bergspitze. Wir sind nicht hochgeklettert, sondern einfach angekommen. Er verschmilzt fast mit der Natur im ihn herum, so dass ich Angst bekomme. Angst, dass er sich in allem auflöst, und verschwindet.
– Sei nicht so misstrauisch, lacht er mich aus. Ich lache mit.
– Du musst die Vögel verscheuchen, wenn sie dir zu nahe kommen, rate ich ihm.
– Ich weiß, sagt er. Ich war schon häufiger hier.
– Komm, wir gehen ans Meer, ruft er und rennt schon los. Ich denke, wo soll denn hier ein Meer sein, laufe aber hinterher. In der Ferne kann ich es schon riechen. Ich folge ihm.

V: Eine Logik … und, wenn ja, wonach richtet sie sich. Was sie in ihren Stimmungsschwüngen, ihren plötzlichen Attacken ungestümer Ideen und unvorhersehbarer Äußerungen vorhaben, und oft muss ich daran zweifeln, ob ich ein Verhältnis zu ihnen aufbauen konnte, das mich außerhalb eines Angezogenseins und dem von meiner männlichen Umwelt so oft zur Schau getragenen richtungslosen Werbens um Aufmerksamkeit, jenem ständigen Paarungs-Balzen vertrockneter Gockel, was mich also in meinem Verhalten zu ihnen bestimmt. Ich hatte es zu einer gewissen Expertise gebracht, so jedenfalls bildete ich mir ein, sofort auf die Ursachen und Auswirkungen zu schließen, die ein willkürliches Zusammentreffen der Geschlechter zeitigen mochte. Mir war die Zielgerichtetheit vieler Männer bewundernswert, mit der sie sich rudelhaft an den Bars aufhielten zu bestimmten Uhrzeiten, um die eintreffenden Zufallsbekanntschaften mit unverhohlenen Blicken zu taxieren, und ich kann wohl sagen, dass ich nicht selten amüsiert jene Rituale der ersten Annäherung zur Kenntnis genommen habe.

G: Das klingt alles so analytisch. Das Geld habe ich mir gespart. Das braucht kein Mensch. Glaubt mir.

V: Das hat nichts, aber auch gar nichts mit den Sitzungen bei meinem Therapeuten zu tun. das musst du mir glauben, Gladis. Es ist eher so, dass ich mich manchmal derart wohl informiert fühlte, durch genau Betrachtung und sensible Studien so analytisch-vorausschauend in die Lage gesetzt zu sein, den Verlauf eines Gesprächs, den Erfolg oder Misserfolg einer Anbahnung schon im Voraus zu beurteilen. Und ich lag damit oft so richtig, dass ich gar keine Lust mehr hatte auf neue Bekanntschaften.

G: Worüber redest du eigentlich. Über Bernard? Über euch?

V: Über mich! ( sie lehnt sich an eine Wand an in klassischer prostitutionsanbahnender Pose, sie wölbt sich, streckt ihre Brüste raus, guckt verrucht)
Ich rede endlich einmal wirklich und ausschließlich über mich. Findest du nicht, dass ich das viel zu selten getan habe? Gerade in der New Yorker Single-Hölle verkamen jene dann ohnehin relativ zügig zu einem Abwägen der körperlichen und finanziellen Vorzüge, das man mit überlautem Reden und viel Alkohol zu überdecken suchte. Ich hatte es mir zur Angewohnheit gemacht, jene ersten Schritte meiner Mitbewerber — meine erste Ehe lag gerade in der letzten Phase ihres vollendeten Absturzes — jene nicht selten ans Lächerliche grenzenden Buhlschaften um sexuelle Vorteile durch nächtliche Gegenseitigkeit in Kategorien einzuteilen:

G: Du hast ja recht. Aber wieso erzählst du mir das alles?

V: Weil ich einfach nicht mehr kann. Ich kann nicht mehr so tun, als wäre das alles egal. Hör mir zu : Da gibt es die besonders Sportlichen, die vor allem auf ihr Äußeres vertrauten, den Ferrarischlüssel möglichst in Augenhöhe schwenkten, um ihn dann geräuschvoll auf die Theke zu knallen und in schneller Bewegung jene sehr viel größere Masse geschmackloser Holztäfelung in vorteilhafte Korrelation zu ihrem beginnenden Bauchansatz zu bringen. Die Stillen, die, während um sie herum alles tanzte und sich amüsierte, mit einem abgegriffenen Philosophiebändchen zugange waren, scheinbar darin vertieft, um sich so eine Air von begeisterungsfähiger Beziehungsentschlossenheit, von Kinderwunsch und hoffnungsvoller Ausdrucksfähigkeit im Bett zu geben. Die Angeber, die Berufsbezeichnungen vor sich hertrugen wie Kellner ihre Tabletts. Meist ähnelten sie den Bauchladen-Girls von Nachtclubs, an denen man sofort die bevorzugte Zigarettenmarke erspähen konnte und so gar nicht lange zögern musste, um die Größe der Wohnung, des Kontos und anderer persönlicher Kennzeichen abzuschätzen. Und natürlich war mir bereits jener Künstlertypus begegnet, der sich mit wilden Haaren, bunten Hemden voller Ölfarbflecken, mit schmutzigen Fingernägeln und garstigen Bartstoppeln einen Anschein von Erhabenheit gab, bevor er einen kyrillisch klingenden Namen anführte, um mit feurigen Augen ein Opfer so lange zu fixieren, bis es sich quasi freiwillig und ohne zu zögern hingab. Dies aber war etwas anderes.

G: Und wer davon war dein jetziger Mann? Wo ist Bernard?

V: Bernard, Bernard ?

G: Genau, Bernard.

V: Bernard, meine liebe Gladis, Bernard ist mein bester Kunde.

(Schweigen)

(Bernard betritt den Raum, wirkt geistesabwesend, geht an den Bühnenrand und redet zum Publikum)

B: Ich wohnte in einem ganz netten Viertel, wo es einiges zu sehen gab, wenn man die Augen aufhielt. Ich erwartete nichts, keine Eingebung, keine Inspiration und vor allem wollte ich nicht reden. Selbst mein innerer Monolog war verstummt, in gewisser Hinsicht war das wie ohnmächtig. An einer Wand lehnte eine junge Prostituierte, die okay aussah und mich professionell anlächelte. Ich zögerte nicht. Wenn es jemand wert war, dann sie. Sie sprach mich an.
„Na, alles klar?“, sie wölbte sich ein bisschen. „ ´N bisschen Spaß?“
Ich bezahlte für eine Stunde und ging mit ihr in ein Zimmer. Dort setzten wir uns auf ein Bett. Ich war mir wirklich nicht darüber im klaren, ob ich erregt sein wollte oder nicht, stockte kurz und dann erzählte ich ihr doch die ganze Geschichte.
Ich fing mit meiner Kindheit an, die dann doch überraschend ausgiebig behandelt wurde.
Nach einer Stunde räusperte sie sich kurz und machte eine charmante Geste.
Ich gab ihr noch mal Geld und kam zu meiner Jugendzeit. Ab und zu musste sie lachen, unterbrach mich aber nicht. Ein paar mal schien sie überrascht zu sein, als die ganz wilden Geschichten zu Tage kamen, aber so richtig umzuhauen schien sie das auch nicht. Diesmal hatte ich aufgepasst und gab ihr gleich den ganzen Rest Geld, den ich noch bei mir hatte.
Ich weiß nicht genau, wie lange ich bei Harold, meinem Partner und besten Freund und bei Hannah, meiner jüdischen Ex- Frau verweilte, aber es war mit Sicherheit der schmerzvollste Abschnitt des Abends. Ich rollte all meine Probleme vor ihr aus. Ich machte sie mit der Geisterbahn meines Innenlebens so rücksichtslos vertraut, wie ich es vorher noch bei keinem Menschen gemacht hatte. Es tat so furchtbar weh, von Hannah zu sprechen, ehrlich gesagt hatte ich es in den letzten Tagen eher vermieden, daran zu denken. Ich musste immer wieder kleine Pausen einlegen, weil mir die Stimme versagte. Mein Hals brannte, in meinem Kopf surrte es, und wie unter Zwang redete ich weiter und redete und redete. Ich ließ nichts aus, und als ich auf den traurigen vorläufigen Höhepunkt zusteuerte, sah sie mich wissend an.
Ich berichtete von meinen Träumen, von meinen Gewaltphantasien und von meiner Angst vor mir selber, auch von meiner Arbeit, die uninspiriert war. Ich erzählte ihr davon, wie es sei, emotional beschnitten zu sein. Wenn alles, an das man glauben wollte, verloren war.
An der Stelle brach ich ab, überlegte kurz und sagte dann, dass das alles sei.
„Sicher?“
Ich nickte.
„Und was willst du als nächstes machen?“
„Keine Ahnung“, ich zuckte mit den Schultern.
Sie legte eine Hand auf mein Knie.
„Du weißt, was du machen musst“, sie klang bestimmt.
Ich dachte nach, alles verwob sich miteinander, ich war erschöpft, nach diesem Marathon, hatte nicht das Gefühl, dass da gerade ein klarer Gedanke durchkommen konnte. Ich sah sie fragend an. Sie stand auf und brachte mich zur Tür.
„Komm wieder ins Leben zurück. Es ist zu kalt draußen.“
Seitdem liebe ich sie.

V: Handbewegungen verraten viel mehr über einen Menschen, als es nur die Hände selbst tun. Zwar habe ich mich oft dabei ertappt, einen jungen Mann und die Worte, die er spricht, nicht mehr halb so ernst zu nehmen, wenn ich kleine Stummelfinger an ihm entdecke. Ich verabscheue mich dann für ein so flüchtig-ästhetisches Urteil, bin aber sicher, dass ich nicht alleine das Gewachsene dabei beobachte: Ich glaube vielmehr Zeuge sein zu können, wie sich das Organisch-Vergängliche dem Zufall entgegenstellt, und bewundere, wie sehr jene, die sich in diesen Zufällen befinden, jene Körper besitzen und beseelen, sich virtuos ihres sie umschließenden Instrumentes bedienen. Der junge Mann mit den Stummelfingern ist ja der einzige, der je in der Lage sein wird, sich seiner Finger zu bedienen, einfach, weil er in sie hineingewachsen ist — und also muss die Art, sie zu führen die bestmögliche, ja, einzige sein, mit der sie zu bewegen sind.

G: Das wusste ich überhaupt nicht. Das hat mir nie jemand gesagt. Daher kennt ihr euch, Victoria. Du ! Eine … eine … also …

V: Sag es ruhig, es wird dich befreien. Sag es. Eine …

G: Verzeih mir, ich kann nicht anders. Eine … ich kann es nicht über die Lippen bringen. Aber das wird nichts ändern zwischen uns … glaube mir. Weiß Harold davon?

V: Der gute, gute Harold. Frag ihn selber. Man erhält, und vielleicht sage ich das mit einer gewissen Zufriedenheit, nach einigen Jahrzehnten des Erwachsenseins ein Beurteilen der Dinge, noch bevor sie entstehen. Es geht einher mit einem Sich-nicht-länger-über-die-Welt-wundern indem man sich langsam nun in ihr zurechtfindet: Ich glaube, dass ein Idiot ist, wer annimmt, die ihn bewegenden Fragen für letztgültig geklärt zu halten, sobald sein Bankkonto, seine gesellschaftliche Stellung oder die flüchtigen Lüste wie beruflicher Erfolg und eine Anerkennung durch Altvordere erreicht ist. Ab einer gewissen Zeit nehmen sich diese Gezeiten der Jugend, wie ich sie nennen will, ohne dabei trivial klingen zu wollen – immer, wenn man sich zu diesen Dingen äußern will, bordet man an die Grenzen des Trivialen, als hätte jemand absichtlich neblig wabernde Grenzen einem Thema geschaffen, für das in der modernen, post-freudianischen Zeit kein Platz mehr ist, jedenfalls nicht als intime Einlassung Fremden gegenüber — sie nehmen sich lächerlich, nein, im rechten Sinne des Wortes ver-nachlässigenswert aus. Als wäre man von ihnen angehoben worden, ein Stückchen Treibholz, und über’s Meer getrieben von ungeordneten Winden, an die sich zu erinnern plötzlich die Illusion von Begeisterung schafft, von Unschuld und frischem Atem. Dann, wenn man es am wenigsten erwartet, schlagen die Wellen über einem zusammen, und wenn man wieder auftaucht, hat man jede Orientierung verloren. Ich hatte sie gerade verloren: Mein Scheitern, das familiäre Desaster, von dem hier nicht weiter die Rede sein soll, hatten mich dorthin gebracht. Und in Ausübung meiner Gewohnheiten wie dem Besuch jener Auktion und ihrer Kreise, die mir momentan recht gleichgültig waren, bewegte ich mich auf den vertrauten Wegen, die mir meine Studien, mein Beruf und meine Interessen einst vorgegeben hatten, in der blinden Hoffnung, sie würden mir den verlorenen Halt zurückgeben.

(Rückblende. Projektion Badesee. Die Harold und Gladis liegen in Badeklamotten auf Handtüchern. Wir hören „How deep is your love” von den BeeGees. Harold ölt Gladis den Rücken ein. )

H: Und nach der High School gehe ich nach Harvard, und dann werde ich für einen Senatoren assistieren, und dann werde ich in den Kongress gewählt. Und dann werde ich Vizepräsident. Oder Justizminister.
G: Und ich werde Mannequin.
H: Schatz, das ist doch kein Beruf.
G: Ich werde in allen Metropolen der Welt zuhause sein. Und du wirst brav studieren. Und dann werden wir heiraten. Ich werde meine Karriere aufgeben und werde Kinder bekommen.
H: Und in Vietnam wird Frieden sein. Und wir werden Kinder haben.
G: Wir werden ein Haus auf dem Land kaufen, damit die Kinder draußen spielen können und wir werden ständig Besuch haben.
H: Ich liebe dich, Gladis. Ich werde dich immer lieben. Du bist die Richtige für mich. Das weiß ich.
G: Ach Darling. Wer weiß schon, was passiert. Wer kann das schon wissen.
Die beiden küssen sich.

(Vorhang)

3. AKT

(Dunkel. Das Telefon klingelt lange.)

H (gähnt): Wolfenstein

Eine Medienstimme spricht am Telefon, aus dem Funkloch, abgehackt, wie Affengeschrei.

H: Ich kann Sie nicht verstehen.

BBC (dann klarer): Ja, Mr. Wolfenstein, hier ist die BBC. Wir hätten gerne ein Interview anläßlich ihrer Ernennung.

H: Ich weiß nicht, wovon sie sprechen. Woher haben Sie meine Nummer? Ich bin Privatmann, bitte beachten sie meine Privatsphäre. Es ist Sonntag. Wir haben vier Uhr morgens.
BBC: Es ist für die Nachrichten, 18 Uhr Londoner Zeit.

H: Bitte rufen Sie am Montag wieder an.

BBC: Sie sollen sich kritisch über den Präsidenten geäußert haben.

H: Fein. Also bis Montag. Einen guten Tag noch.

G (erwachend): Was ist denn los?

H: Das alte Europa ist schon lange wach. Aber Du darfst weiterschlafen, Schatz. Schlaf noch ein bißchen. Fein.

LICHT:

(Harold, Veronica, Gladis und Bernard sitzen vor dem Kamin. Man trinkt Portwein. Auf dem kleinen Beistelltisch steht ein Adventskranz)

H: Wenn ich Bush über die Al Quaida reden höre und es sich anhört, als wäre es Nazi-Deutschland oder die kommunistische Partei der Sowjetunion muss ich lachen. Weil ich weiß, wie es sich tatsächlich verhält. Bin Laden wurde jahrelang überwacht, jedes seiner Telefongespräche wurde aufgezeichnet. Sie hätten keine Operation geheim halten können.

(nimmt Zeitung in die Hand)

Eckard Werthebach, der Ex-Präsident des deutschen Verfassungsschutzes wird zitiert: „ Die Angriffe vom 11. September erforderten jahrelange Planung und das Ausmaß der Angriffe legte den Schluss nahe, dass sie das Ergebnis staatlicher organisierter Aktionen waren.“
Aber welches Land hat uns angegriffen?
Um etwa 8.15 Uhr hätte klar sein müssen, dass etwas Schreckliches geschieht. Der Präsident schüttelt Lehrern zur Begrüßung die Hand. Um 08.45, als Flug Nr. 11 der American Airlines in das WTC rast, stellt sich Bush zu einem Fototermin mit Kindern der Booker-Grundschule auf. Offensichtlich waren vier Passagierflugzeuge gleichzeitig entführt worden. Ein Vorgang, der in der Geschichte seinesgleichen sucht und eines davon ist soeben in die weltberühmten Zwillingstürme gekracht. Doch noch immer wird der nominelle Oberbefehlshaber nicht in Kenntnis gesetzt. Offensichtlich hat auch niemand Abfangjäger der Luftwaffe zum Soforteinsatz losgeschickt.

B: Ja, wir wissen das und das hat auch seine Gründe gehabt. Man kann schließlich über alles reden!

H: Nein, Rumsfeld hat es dir, mein lieber Bernard, unter Strafandrohung verboten, darüber zu reden. Ist es nicht so? Ihr wisst alle Bescheid. Ist es nicht so? Aber lass mich weiter reden … Ein weiteres entführtes Flugzeug steuert derweil auf Washington zu. Aber wurde die Luftwaffe mobilisiert, um irgend etwas zu schützen? Nein. Stan Goff, mein Freund an der Militärakademie in Westpoint kann sich nicht erklären, warum man nicht der Standardanweisung für das Vorgehen im Falle einer Entführung folgte. Weicht ein Flugzeug von seiner Route ab, werden normalerweise Abfangjäger losgeschickt um den Grund dafür zu erkunden. Das ist gesetzliche Vorschrift! Weißt du noch, wovon ich rede, Bernard. Das Gesetz? Es bedarf dazu keiner Zustimmung des Präsidenten. Die ist nur dann erforderlich, wenn das Flugzeug abgeschossen werden soll. Aber der Präsident wird gar nicht informiert. Er besucht eine Grundschule in Florida um Kindern beim Vorlesen zuzuhören.

G: Das ist doch auch wichtig. Hast du, Harold nicht immer behauptet, die fortschreitende Analphabetisierung der arbeitenden Masse unseres Landes sei der wahre Grund dafür gewesen, einen bekennenden Proleten auf den Präsidententhron zu wählen?

H: Das und das Frauenwahlrecht.

Gladis nimmt ein Brötchen und wirft es ihm an den Kopf.

H: Die Regierung wird später behaupten, sie habe nicht wissen können, dass das Pentagon ein mögliches Angriffsziel sei. Vielmehr habe man angenommen, Flug 77 würde das Weiße Haus ansteuern. Tatsache jedoch ist, dass das Flugzeug bereits Kurs nach Süden genommen hat. Die Flugverbotszone des weißen Hauses liegt hinter ihm, als es mit 650 km/h über den Himmel rast. Um 9.35 vollführt das Flugzeug, vom Radar aufgezeichnet, erneut eine Drehung von 360 Grad über dem Pentagon. Doch das Pentagon wird nicht evakuiert und am Himmel über Alexandria und Washington befinden sich immer noch keine Abfangjäger. Und dann der Hammer: Ein Pilot, der wie man uns Glauben machen will, in einer kleinen floridanischen Flugschule für Klapperkisten wie Piper Cups und Cessnas ausgebildet wurde, dreht eine perfekt ausgeführte Abwärtsspirale, wobei er sich aus 7000 Fuß Höhe in zweieinhalb Minuten dem Pentagon nähert. Er bringt das Flugzeug so tief herunter, dass es die Stromleitung auf der dem Pentagon gegenüber liegenden Straßenseite streift und steuert millimetergenau mit 750 km/h in die Flanke des Gebäudes.

B: Harold das ist alles sehr schön gesehen, was du da vorträgst, aber noch so genaue Recherchen täuschen nicht über eines hinweg: So etwas hat es noch nie gegeben. Verstehst du. Noch nie? Da kann die scheißliberale Presse investigativen Journalismus betreiben, bis sie blöd wird. Fakt ist: An allen Stellen dieses Landes sitzen Menschen. Auch der Präsident ist ein Mensch. Auch Rumsfeld. Alles Menschen. Was hättest du denn gemacht? Hättest du in zweieinhalb Minuten alles besser gemacht? Leidest du vielleicht doch unter …

H: … ja ja, sag es ruhig, unter Größenwahn , ich weiß, das musste ja kommen. Kritik gleich Größenwahn. Vielen Dank. Ich hätte die Warnungen ernst genommen!
Der pakistanische Terrorist Abdul Hakeem Murat sagte dem FBI 1996, er habe Flugunterricht genommen um ein Flugzeug in das CIA-Hauptquartier zu steuern. George Tenet, du kennst ihn, er war CIA Direktor, gibt 1998 eine Kriegserklärung heraus. Er warnt. Nichts passiert. Und jetzt zum Krieg. Noch am 28. Juli berichtet die Washington Post, das zahlreiche hochrangige US Militärs behaupten, Präsident Saddam Hussein stelle keine unmittelbare Bedrohung dar. Sie plädieren für die Aufrechterhaltung des Status Quo. Verteidigungsminister Rumsfeld droht allen, die diese Information durchsickern lassen mit strafrechtlicher Verfolgung. General Fred Woerner hält diese undichte Stelle nicht für einen Zufall. Womöglich ist dieser Plan bereits voll im Gang.

B: Was willst du denn dagegen tun?

G: Aber sie haben uns doch angegriffen.

H (schreit): Wer ist denn DIE, Gladis? Ist Saddam Hussein DIE? Ist bin Laden DIE? Verdammt noch mal, es gibt keinen Zusammenhang zwischen Bin Laden, dem 11. September und dem Irak. Schau dir doch Rumsfeld mal einfach an, bei den Pressekonferenzen. Sein Grinsen. Seine imaginäre Narrenkappe. Man hört die Schellen förmlich klingeln. Wie froh er darüber war, dass während Afghanistan lief, keiner fragte, warum Bin Laden nicht einfach 300 Kilometer weiter in Djakarta sein soll. Da, wo man ihn schätzt. Und viel besser verstecken kann. Und während wir zum 251. mal ein Land platt machen, was uns nichts getan hat außer die am langfristigsten nutzbaren Ölreserven der Welt zu haben, dezimieren wir nonchalant die Armen und Schwarzen in der Armee. Und du sagst, sie hätten uns angegriffen!?!
Nehmen wir mal, sie hätte wirklich. Könntest du es ihnen verdenken? Ja, wahrscheinlich. Ich kann es nicht. Ich kann nichts mehr davon. Ich sitze am Telefon habe weinende Witwen am anderen Ende der Leitung und Bankiers, die mich anschnauzen und denke die ganze Zeit: Sie hätten noch viel mehr umbringen sollen.

Alle: Harold! Du vergisst dich!

H: Ja, ich vergesse mich, ich vergesse mich! Schau dir unsere Industrie an. Nike, HP, Baywatch und American Express, die Welt spricht VISA … Alle hassen uns und sie haben Recht damit, verdammt. Was haben wir ihnen denn gebracht? Ausbeutung, Hunger, Elend und Landminen. Die Russen haben wenigstens von alleine aufgehört …

B: Die konnten auch nicht länger, Harold.

H: Und wir können immer. Wir sind das globale Viagra! Wir penetrieren den Globus, bis er wund ist.
(Steht mit kreisenden Beckenbewegungen auf und stößt gegen die Couch. Setzt sich wieder hin)

G (geschockt): Was? Wir penetrieren was?

H: Ach, ich bin müde. Was für ein Witz. Ist euch schon mal aufgefallen, dass außer den Verbrechern im weißen Haus und Pentagon keiner Krieg will im Irak? Die Deutschen nicht, die Franzosen nicht, nicht mal die Engländer. Die UNO nicht, die Inspektoren nicht, der Sicherheitsrat nicht. Keiner will Krieg!

B: Was willst du denn?

H: Ich will den Schaden in jeder Zivilbevölkerung so gering wie möglich halten. Und da ich Bush nicht ermorden kann …

G: Eins muss ich dich fragen. Was hätte Al Gore denn getan?

H: Gladis, das weiß ich nicht. Aber er wäre wenigstens legitim gewählt gewesen.

( Gladis poliert den Tisch, Harold legt neues Holz nach, Victoria scheint eingeschlafen zu sein)

B: Jetzt reicht es mir, Harold. Ich kann mir das nicht länger anhören. Egal, was man wie rum dreht, irgendwie hat jeder Recht, das ist ja das Problem. Aber es gibt keinen Grund, ständig alles in Frage zu stellen.

( Bernards Telefon klingelt)

B: Ja, ja, was? Sie haben, was? Gut. Ja, verstehe. Aber das ist ja … gut, verstehe. Danke. Auch ihnen ein schönes Wochenende (legt auf).

H: Gladis, wie viel Uhr ist es?

G: Viertel nach neun.

H: Merken wir uns diese Zeit. Lass mich Bernard raten, dein Büro, ich meine, dein neues Büro?

B: Ja, ja

H: Ich möchte kurz um Ruhe bitten. Unser Freund Bernard möchte uns etwas mitteilen … das möchtest du doch, Bernard, nicht?

B: Harold, du weißt, dass ich das nicht darf.

H: Aber bitte, Geheimnisse aller Art befinden sich bei uns in den besten Händen. Wer weiß, ob ich überhaupt noch die Gelegenheit haben werde, sie weiter zu erzählen.

G: Was soll das denn heißen?

H: Das musst du Bernard fragen.

G: Bernard?

B: Der Kongress hat dem Präsidenten die Vollmacht erteilt.

H ( nimmt Adventskranz und setzt ihn sich auf den Kopf, nimmt die Tischdecke und hängt sie sich um) :

44 Messerstiche … 44 Messerstiche … als Julius Cäsar in den Verdacht geriet, er wolle sich zum König ausrufen, sammelten sich die Senatoren und stachen ihn nieder.

B: Aber das war in Europa, vor langer Zeit.

(H schnappt sich eine Schultafel und malt ein Diagramm mit weißer, roter und grüner Kreide auf.)

H: Was ist die Natur der Tyrannei? Es ist doch offensichtlich, daß sie aus der Demokratie entsteht, oder?

B: Ja.
H: Genau wie die Demokratie aus der Oligarchie entsteht.
B: Wie meinst du das?
H: Das Hauptziel und der Untergang der Oligarchie ist doch der exzessive Wunsch nach Wohlstand. Dieser Wunsch stellt alles andere in den Schatten. Und hat die Demokratie nicht auch ein Ziel?
B: Selbstverständlich.
H: Und ist nicht auch hier das exzessive Streben danach ihr Untergang?
V: Und was wäre dieses Ziel? Wohin streben wir so exzessiv?
H: Nach Freiheit. Sie ist das höchste Gut in einer demokratischen Gesellschaft. Und der exzessive Wunsch nach Freiheit vor allem anderen ist es, was die Demokratie untergräbt und zur Tyrannei führt.
B: Erkläre das.
H: In ihrem Durst nach Freiheit kann die demokratische Gesellschaft unter den Einfluß schlechter Führer geraten, welche dieses Bedürfnis ausbeuten. Wann also wird der populäre und meinetwegen sogar relativ einigermaßen gewählte Führer zu einem Tyrann?
B: Wenn der Mob alles tut, was er ihm sagt.
H: Dann wird die Versuchung, eines anderen Blut zu vergießen, zu stark. Also beschuldigt er sein Opfer ungerechtfertigterweise. Er zerrt ihn vor Gericht. Er ermordet ihn, zerstört menschliches Leben und kommt auf den Geschmack nach dem Blut seiner Feinde. Es folgt Exil, Exekution, Schuldenerlaß, Umverteilung des Landes bis unser Führer nur noch von seinen Feinden zerstört werden kann oder zum Tyrannen wird.
Bernard, kannst du dich noch an Joseph Schumpeter erinnern?

B: DEN Schumpeter?

H: Eben jenen. DER Ökonom des Jahrhunderts. 1919 schrieb er über das römische Reich:
„Es gab keinen Winkel der bekannten Welt, wo römische Interessen nicht angeblich bedroht waren oder gerade angefochten wurden. Und wenn nicht die Interessen Roms, dann die seiner Verbündeten. Hatte Rom keine Verbündeten, wurden welche erfunden. Der Krieg erhielt stets den Anstrich von Legalität. Rom wurde stets von bösen Nachbarn angegriffen.“
Das wusste schon Platon, das wusste schon Adolf Hitler und Bush ahnt es auch: Ein Land ist immer zu klein. Es ist ganz egal, ob das stimmt oder nicht. Und wer in Nebraska und Idaho war, weiß genau, dass es natürlich nicht stimmt. Nichts ist hier zu klein. Manhattan vielleicht, aber gerade da haben wir ja jetzt wieder mehr Platz bekommen. Allein die Disziplin, die es erfordert, ein hohes Haus mit einem Flugzeug zu finden und zu zerstören … findet ihr nicht?

B: Du möchtest also, wenn ich dich richtig verstehe, den Präsidenten töten?

H: Es gibt da nur einen Haken: Ich glaube, die deutschen Terroristen haben ihn damals auch schon erkannt. Ein System ist stärker, als ein Mensch. Überlegt doch mal, wie viele Würdenträger man töten müsste um das System zu zerstören? Und wir haben uns alle damit abgefunden, dass es nicht veränderbar ist.

V (wieder aufgewacht): Love it or leave it …

H: Condoleeza und Colin sind beide weiß, oder wie Harry Belafonte sagte: Hausneger.

G (schreit): HAROLD! (prügelt auf ihn ein, fängt an zu weinen und zu schreien)
Was ist nur mit dir los? Wir haben doch ein Leben! Wir leben doch! Ich lebe, du lebst, ich habe dich geheiratet. Ich wollte dir Kinder schenken. Selbst das wolltest du nicht. Ich ertrage das nicht mehr. Was willst du überhaupt? Willst du sterben? Willst du an Leidensdruck sterben?

H: Ich war der beste Jurist meines Jahrgangs, Gladis. Und was habe ich erreicht? Ich bin 53, mein Geschäftspartner will mich aus der Firma drängen, der Präsident bietet mir den absurdesten Job an, der zu vergeben ist und es geht alles immer weiter und weiter und weiter. Und es ist kein Ende in Sicht, der 2. Weltkrieg war wenigstens irgendwann mal zu Ende.

G (schreit): Es geht uns doch gut. Ich weiß gar nicht, was du hast? Du hast geschafft, was du immer wolltest. Jetzt willst du lieber unglücklich sein und auch das hast du geschafft. Du machst hier wildeste Theorien und zitierst Platon und was weiß ich wen und eigentlich willst du dich und mich nur quälen. Das hast du geschafft. Herzlichen Glückwunsch!

B (vorsichtig): Sie hat Recht, Harold.
( vertraulich zu Gladis) Wann ging das los? Was ist passiert? Wann hat das angefangen?

G ( ahnend): Nein, es war ein Traum ich weiß es noch genau. Er wachte auf und sagte, er hätte geträumt …

(schwarz)

(Spot auf Harold alleine. Sein geöffneter Koffer liegt vor ihm auf dem Boden. Harold bastelt sich aus verschiedenen Einzelteilen einen Sprengstoffsatz, den er an einem Gürtel befestigt hat)

H (atemlos, gehetzt, zu sich):
Ich spreche sie auf einem Spielplatz an. Ich weiß nicht, woher ich das weiß, dass das da so ist. Sie ist zwölf. Sieht wahnsinnig gut und sehr fertig aus. Blonde lange Haare, Jeans an. Sieht aus wie meine Tochter in drei Jahren. Die Tochter, die Gladis immer wollte. Ich weiß warum ich keine will. Nicht, weil ich sie vor den Männern schützen möchte, sondern weil ich sie vor der Welt nicht schützen kann. Vor mir nicht schützen kann. Sie verhält sich wie eine Professionelle. Nur jünger. Gehe mit ihr durch den angrenzenden Park zu einem anderen Spielplatz. Frage sie, ob sie nicht lieber zu mir nach Hause kommen will. Sie hat Angst, dass ich ein Perverser bin. Lehnt ab. Kennt das wohl schon.
Wir sehen uns ständig um. Ich habe Angst davor, erwischt zu werden. Sie auch. Wir kriechen in ein Gebüsch. Da ist so eine Art Schaukel, Wippe, was-weiß-ich, da ist ein anderes Paar, so wie wir. Er sitzt auf dem Holzding, das andere Kind kniet vor ihm. Weiß nicht, was die macht. Sie sagt, ich soll mich neben den anderen Mann setzen. Ich tue es. Weiß aber ab dem Zeitpunkt, dass ich das nicht will. Habe die ganze Zeit, den ganzen langen Weg lang geschwankt. Jetzt weiß ich Bescheid. Sage ihr, dass ich das nicht will. Sie ist total sauer. Den ganzen Weg umsonst. Ich biete ihr zwanzig Dollar als Entschädigung an. Sie funkelt mich böse an.
Wie soll ich denn davon breit werden, hä? Ich beruhige sie. Sie ist doch noch ein Kind, weiß ich, ich werde sie doch wohl beruhigen können. Diesmal nimmt sie mein Angebot an.
Wir gehen zu mir. In mein Büro. Habe Angst, dass sie alles klaut. Habe noch Wäsche auf einem Ständer draußen vor der Tür postiert. Mache mir Sorgen, dass die neuen Trikots weg sein könnten. Washington Bears.
Mache mir sowieso sehr viel Sorgen. Sorgen, Sorgen. Sie sieht das Foto. Fragt, wer ist der Mann? Ich sage, der Präsident. Sie sagt, sie kennt ihn. Ich frage woher. Aus dem Fernsehen? Sie sagt, nein, aus der Grundschule. Sie kommt aus Florida. Sie erzählt von einem Vorlesewettbewerb. Sie sagt, es war 08.45, als ein Flug Nr. 11 der American Airlines in das WTC rast und ihr der Präsident, unter den Rock greift. Alle sehen es, aber keiner sagt etwas. Etwas später küsst er sie hart auf den Mund, sagt sie. Reißt ihr den Slip herunter. Fingert in ihr herum. Sagt, sie sei eine Schlampe. Es war ihr letzter Tag auf der Booker-Grundschule.
Jetzt sieht sie müde aus. Sagt, sie hätte seit dem 11. September nichts gegessen. Ich sage ihr, dass es mir genau so geht. Weil ich nichts mehr essen kann. Weil ich nichts mehr essen will. Ich will verhungern. Sie sagt, sie hätte Hunger. Sie schreit, als ich das Bild des Präsidenten abhänge. Er riecht nach Mist, sagt sie mir. Wir gehen in die Küche. Ich freue mich plötzlich, eine Tochter zu haben. Eine richtige Tochter, die genau so ist, wie ich. Ich frage sie, ob sie richtig harte Sachen nimmt. Sie sagt, nein nur so Zwischendinger.
Ich: was?
Sie: Na, Crack halt.
Ich glaube, irgendwo noch Gras zu haben. Sage ihr, dass sie auf jeden Fall bei mir kiffen kann. Sie lacht. Der Spielplatz, wo sie stand und wo auch die Crackdealer stehen ist genau neben dem Büro. Ich mache Pfannkuchen für uns beide. Sie weint beim Essen. Sie fragt: Daddy, bin ich wirklich eine Schlampe? Hat der Mann recht?
Ich überlege, ihn umzubringen. Sage ihr aber nichts davon. Sie braucht Ruhe. Ich brauche Sprengstoff. Plastik. Ich habe ja immer noch eine Verabredung.
Sie fühlt sich nicht wohl. Will, glaube ich baden gehen, zieht sich auf jeden Fall aus. Hat schon kleine Brüste, ist überall wahnsinnig dreckig und hat üble Wunden auf ihrem Oberkörper, Schrammen, Kratzer, Verletzungen.
War er das, will ich wissen. Sie sagt nichts mehr. Ich will es auch gar nicht wissen.
Sie sagt, sie müsse noch mal los. Ich sage, okay. Sie kommt wieder. Ich frage, ob sie Crack geraucht hat. Sie sagt, ja.
Mir wird klar, dass ich sie nicht mehr rauslassen darf. Sage ich ihr. Sie nickt müde.
Dann sagt sie: Du darfst auch die anderen Mädchen nicht mehr rauslassen. Es ist eine schwere Zeit für kleine Mädchen. Weißt du, wie es in dem großen, blauen Flugzeug innen aussieht? Ich nicke müde.
Bernard kommt. Sagt, er hat Akten vergessen. Das Mädchen kennt ihn. Sie schreit laut auf vor Angst. Sie schreit und schreit und schreit. Bernard wird leichenblass. Er greift zum Telefon. Jetzt weiß ich endlich, was zu tun ist. Ich entreiße ihm sein Handy und werfe es in die Badewanne. Ich zerre das kleine Kind heraus und frottiere sie im Fahrstuhl. Ich muss raus. Ich weiß, dass ich eine einsame Zeit vor mir habe. Ich muss dieses Kind bewachen, ich muss es beschützen und ich will Genugtuung.
Ich wache auf.

(Bernard tritt auf)

B ( ruhig, sanft, sachlich): Ich werde jetzt das FBI anrufen, Harold. Ich habe keine andere Wahl. Du bist krank und überarbeitet und ich bin sicher, dass alles gut wird. Gib mir jetzt die Waffe, Harold. Gib mir die Waffe.

H: Ich muss dieses Kind beschützen und ich will Genugtuung.

B: Harold, du hast es eben selber gesagt. Jedes System ist stärker als ein Mensch. Willst du selber zum Tyrannen werden?

H: Bernard, es ist nichts persönliches. Ich habe eine historische Chance und ich werde sie nutzen. Es ist wie Aristoteles und Alexander der Große. Ich habe ihn nicht früh genug kennen gelernt. Ich konnte nicht mehr gegensteuern. Vielleicht, wenn meine Eltern nach Texas gezogen wären, hätte ich mit ihm Baseball spielen können, hätte ich Einfluss ausüben können. Aber selbst dann wäre ich immer noch Jude gewesen. Und weißt du noch etwas, Bernard, mit dir habe ich Baseball gespielt. Und was hat es genutzt?
Nein, dafür ist es zu spät. Ich habe mir besorgt, was ich brauche. Und ich habe am Montag eine Verabredung.
Du wirst niemanden anrufen, Bernard! Du wirst hier sitzen und mit Veronica und Gladis Wein trinken und über Herrenschuhe oder den japanischen Inneneinrichter reden. Du wirst dich ganz normal verhalten und es wird dir nichts passieren. Es wird ein sehr langes Gespräch werden und du wirst es genießen.

(schwarz)

(Wir hören/sehen Nachrichtensender)

CNN (Breaking News): Wie wir soeben erfahren, hat sich ein furchtbarer Terroranschlag im Oval Office ereignet. Präsident Bush hatte, unseren Informationen nach, gerade den Juristen Harold Wolfenstein zum Vorsitzenden des Entschädigungsfonds für die Hinterbliebenen des 11. September ernannt. Gegen 11.07 war eine Detonation zu hören. Es herrscht absolute Nachrichtensperre …

BBC: … über den Gesundheitszustand des Präsidenten liegen keine Informationen vor. Immer noch schwebt schwarzer Rauch über dem Weißen Haus.

n-tv: … offenbar sind Notstandsgesetze in Kraft gesetzt worden. Bundesinnenminister Schily sprach von einem erneuten Anschlag auf die westliche Zivilisation. Der zivile Flugverkehr wurde überall in den USA ausgesetzt. Währenddessen wurde der Häuserkampf in Bagdad mit unverminderter Härte weitergeführt. Keiner weiß, wo sich der amerikanische Präsident zur Zeit aufhält.

Al-Djazeera zeigt Bilder von Freudentänzen in Bagdad, Jordanien und Kairo.

ENDE