Von Harald Stazol
Im berühmtesten Rotlichtviertel der Welt sind die meisten Frauen ihr eigener Chef. Wer sich anbieten will, mietet ein Fenster – ganz legal. Der Staat bestimmt die Regeln im Berufsverkehr.
Manche Männer klammern sich an die Illusion. Sie wollen einmal derjenige sein, bei dem sich mehr ereignet als bei allen anderen. Ein ewiger Männertraum, auch hier im ältesten Teil Amsterdams; jenem bisschen Land, das die Stadt im 13. Jahrhundert dem Wasser mit einem Wall abtrotzte, der dem Rotlichtviertel seinen Namen gab: De Wallen, verniedlicht zu Walletjes.
Tausende von Männern wandern täglich durch die Straßen, vorbei an Fenstern, hinter denen die Frauen Barbiepuppen in Plastikverpackungen gleichen: Körper auf purpurnem Grund, weiß, schwarz, elfenbeinfarben und manchmal schon ein wenig welk, allesamt käuflich, alle zu haben.
Männer sind Kunden, Freier. Und Freier, die davon träumen, etwas Besonderes zu sein, „lesen zu viele Frauenzeitschriften“, sagt Jacqueline und lacht. „Softies, die einem sagen, ich will, dass es auch schön für dich ist.“ Sie lacht noch lauter, wirft ihren Kopf in den Nacken und rollt mit den Augen. „Ich denke immer nur: come on! Habe alles andere im Kopf – wo ist meine Geldbörse, wie spät ist es, ich bete, dass das Kondom nicht verrutscht! Was bilden die sich ein?“
Jacqueline war berühmt für ihre roten Haare und ihre Hotelbesuche, ihr Leib war beliebt. „Immer hatte ich die volle Kontrolle über die Situation“, versichert sie unaufgefordert, sogar bei der Fußballmannschaft, damals im Hotel. Erst seien sie ganz laut gewesen in der Lobby, und dann auf den Zimmern ganz kleinlaut, einer nach dem anderen. Wieder lacht sie.
Vor sieben Jahren hat Jacqueline aufgehört mit dem Job, viele Freier bedauern das. Dennoch ist sie im Viertel geblieben und auch im Milieu. Sie arbeitet im Prostitutions-Informations-Zentrum gleich neben der Oude Kerk, der Alten Kirche, erklärt gerade einem italienischen Touristen den Unterschied zwischen Swinger-Clubs und Bordellen. Ja, es gebe ihn noch, den Club Paradis hinter der Eisenbahnbrücke, wo er vor Jahren schon einmal war. Nein, die Ladyboys seien jetzt woanders.
Transvestiten seien gerade in, sagt sie, als der Italiener gegangen ist. „Erst kamen die Schwarzen, dann die Asiaten, dann Osteuropäerinnen und jetzt die Transvestiten.“ Die Realität knallt einem manchmal hart ins Gesicht im Walletjes, härter als anderswo in der Stadt. Im Hotelprospekt war vom „Supermarkt der bezahlten irdischen Liebe“ zu lesen, vom „visionären Modell einer urbanen Harmonie“.
Was wohl die Junkies an den Brücken von der urbanen Harmonie halten und was die Frauen hier von der irdischen Liebe? Sie riecht nach Cognac, jene Frau, die plötzlich da ist, sich festklammert und den Ärmel nicht mehr loslässt. „Deutsch? Sprechen Sie Deutsch?“, fragt sie mit schiefem Mund, ihre Zähne sind abgenutzt. „Ich spreche auch Deutsch“, sagt sie dann und geht.
Da steht der alte Schwarze, den alle den Sänger nennen. Er hat immer einen Reggae auf den Lippen, „Baby, I’m yours, baaaaby, I’m yooours“, singt er kehlig, dazu klimpern ein paar Münzen in seiner Plastikflasche. Jeden Tag dreht er seine Runden, leicht gebückt. Am Kirchplatz steht ein athletischer dunkelhäutiger Junge, im durchsichtig-schwarzen Spitzenkleid und hohen Pumps, mit einer roten Rose am Dekolleté. Er winkt. Trompettersteeg heißt die Gasse, die mittelalterlich eng zwischen zwei Häuserreihen verläuft. Zu beiden Seiten sitzen die Frauen, dicht an dicht. Man muss ganz nah vorbei an ihnen, so nah, dass man sie berühren könnte. Einige von ihnen haben engelsgleiche Züge. Ein paar wirken stolz wie die lebensgroßen Porträts der niederländischen Bürgerfrauen im Rijksmuseum. Nur dass die hier sich mehr bewegen und weniger bekleidet sind.
Eine von ihnen ist Marilyn. Natürlich heißt sie nicht wirklich so, alle Frauen hier haben Künstlernamen. Marilyn spricht für Geld. Sie ist blond wie die meisten hier, denn Blonde machen mehr Umsatz. „70“, sagt sie und sieht dabei ein klein wenig aus wie die Monroe. Sie hat eine Menge Ringe im Ohr und eine schmale Taille. Sie redet viel und trinkt Dosenbier, während sie erklärt, was bei ihr wie viel kostet. Ihre Stimme klingt selbstbewusst. Nur manchmal am Ende ihrer Sätze – man hat es schon bei anderen gehört im Viertel – kommt der Eindruck auf, dass der forsche Ton einen kurzen Moment lang bricht. Und dass es bei aller Routine eben doch keine Arbeit ist wie jede andere, hier im Walletjes.
Ob ihn auch andere Männer hören, diesen brüchigen Unterton? Ob die sich auch hinter die Glastür begeben, sich zunächst fühlen wie Alice im Wunderland und dann ziemlich schnell wie Lieschen im Verlies? Ob sie die Kacheln sehen, die den Boden bedecken, die dünne Schaumgummi-Matratze ummauern bis hin zum Waschbecken in der Ecke? Ob sie Zitronenputzmittel riechen, den synthetischen Lavendel und den leichten Duft nach Hallenbad? Marilyn trägt Leder. „Wenn du willst, auch etwas in Weiß“, das hat sie selbst entworfen. „Ich tanze auch“, sagt sie. Erotisch, versteht sich.
Jeden Tag lehnt sie einen Steinwurf von der Kirchmauer entfernt in ihrem Fensterrahmen, legt das linke Bein auf einen Ikea-Barhocker, unter sich weiße Kacheln, hinter sich eine unschuldige Jugend und vor sich gaffende Engländer. „Zehn Italiener kannst du in einer Stunde machen“, erzählt sie, „weil sich immer der Rudelführer ein Mädchen aussucht, und das wollen dann auch alle anderen haben.“ Die Deutschen seien am gründlichsten, sagt sie, und Geld bei denen nie ein Problem.
Marilyn lacht. Marilyn liebt Strass. Und zurzeit Eric, einen Hünen von zwei Metern, keine 25 Jahre alt, ein Strahlemann mit einem riesigen Tattoo auf dem Rücken, der ihr Ärger vom Leib hält: „Durch mich kommt keiner durch, und an mir kommt keiner vorbei“, sagt er. Wer es nicht glaubt, sollte einmal erleben, wie er mit bloßem Hände-in-die-Hüften-Stemmen 20 Texaner am Näherkommen hindert, die Marilyn gern mal fotografieren würden. Geht nicht, sagt er dann. Und wenn Eric das sagt, begreift das jeder Texaner.
Ob er manchmal eifersüchtig ist? „Klar, ist doch nur menschlich. Ich muss das einfach lernen. Aber Marilyn und ich reden oft darüber, das hilft.“ Nur wenn sie direkt vor ihm angemacht wird, auf einer Party oder im Pub, „dann gehe ich auf den Typen zu und warne ihn. Einmal. Ich warne niemanden zweimal“, sagt er. Eric trägt Marilyn zum Auto, wenn sie nicht mehr laufen kann auf ihren Zehn Zentimeter-Absätzen. Und wenn sich die beiden küssen, dann wirkt das sehr verliebt.
„Keine Kissen!“ Christy, die Vorsitzende der Hurengewerkschaft „De roode Draad“ – Rubens hätte diese Frau geliebt – schlägt mit der Hand auf das rostige Brückengeländer. Das bebt, weil sie sich so aufregt: „Allerhöchstens Nackenrollen! Das ist Regel Nummer eins! Damit du nicht erstickt werden kannst!“ Kissen aber sind neuerdings Vorschrift, auf Beschluss der Herren und Damen in Den Haag, Paragraf 250a, seit dem 1. Oktober 2000 in Kraft. Nur ein Detail aus der neuen Gesetzgebung über Prostitution.
Eine Neuregelung war überfällig, das alte Recht widersprüchlich: Prostitution wird zwar seit 1811 geduldet, Rotlichtbetriebe und Zuhälterei aber waren de jure verboten. Die in der juristischen Grauzone angesiedelten Bordelle zu legalisieren, war erklärtes Ziel der Gesetzgeber.
Die Bordellbetreiber und viele Prostituierte sehen das anders. Die Regierung wolle das Geschäft unter Bewachung stellen und dem ganzen Viertel Stück für Stück den Garaus machen. So sieht es auch Gewerkschaftschefin Christy. „Bordelle brauchen jetzt Lizenzen“, sagt sie, und deren Anzahl sei begrenzt. Außerdem müssten sie immer wieder neu beantragt, aber nicht erteilt werden.
„Als einzige Berufsgruppe im Land müssen wir unsere Ausweise immer bei uns tragen! Und dann Kissen! Da sieht man mal, wie wenig Ahnung die haben.“ Sie fährt sich mit beiden Händen durchs lange Haar, einige Männer verlangsamen ihren Schritt. Dabei arbeitet Christy gerade nicht. Erst gestern hat sie einen Hausbesuch gemacht, einen „Schnabbel“, wie sie es nennt. Ganz legal, weil sie Bürgerin eines europäischen Staates ist und in den Niederlanden Steuern zahlt, anders als die schätzungsweise 15.000 Frauen, die landesweit illegal der Prostitution nachgehen. „Ich glaube nicht, dass die aufgehört haben zu arbeiten!“, sagt Christy. „Seit die Bordellbesitzer die Pässe sehen müssen, wenn man für sie anschafft, sind nur die Preise für falsche Papiere gestiegen.“ Die Illegalen würden in den Untergrund gedrängt – ein weiteres großes Manko des neuen Gesetzes.
Viele der Fenster im Viertel stehen deshalb leer. Und man sieht jetzt tagsüber oft Männer, die ein Stück rötliches Papier gegen das Tageslicht halten, um Wasserzeichen zu prüfen. Immer, wenn sie ein lautes Pfeifen hören, laufen sie auseinander, genau wie die Dealer. Dann kommt Hugh um die Ecke, der Polizist. Er ist seit 32 Jahren hier, und auf sein Pfeifen achtet jeder, der keinen Ärger will. Dass man mit den Menschen leben muss, sagt er mit seinen gütigen Augen und dem grauen Vollbart, und dass die deutsche Polizei das sicher etwas anders sähe. Auf einmal blickt er starr und streng in eine Gasse hinein, wo ein junger Schwarzer so unbeteiligt wie irgend möglich an einer Backsteinmauer lehnt.
Marika van Doorning ist keine Prostituierte, aber in Sachen käuflicher Liebe macht ihr trotzdem niemand etwas vor. Seit fünf Jahren arbeitet die Soziologin für das Institut zur Erforschung der Prostitution, sie hat am Paragrafen 250 mitgearbeitet: „Vor dem Gesetz ist Prostitution nun ein Job wie jeder andere auch“, sagt sie. Mehr als 80 Jahre lang sei das Business nicht kontrolliert worden, da könne man nicht erwarten, dass sich jetzt sofort alle daran halten.
„Auch Legalisierung braucht Anleitung, die Prostituierten haben schließlich fast hundert Jahre proletarischer Emanzipation verpasst“, sagt Marika van Doorning. „Man muss ihnen die Rolle in der Gesellschaft geben, die ihnen zukommt.“ Gering ist die nicht. In den Niederlanden gibt es laut Untersuchungen ihres Instituts 7000 offizielle Arbeitsplätze von Prostituierten, 450 Fenster allein in Amsterdam. Geschätzte 10.000 bis 12.000 Menschen arbeiten landesweit täglich im Gewerbe. Und zählt man die Gelegenheits-Prostituierten mit, sind es etwa 25.000, bei einer Bevölkerung von 16 Millionen. Man dürfe, sagt Marika van Doorning, die „Sexworker“ nicht stets als Opfer sehen, der alte Mythos vom gefallenen Mädchen erschwere jede Diskussion. Nicht einmal die Migrantinnen ohne Aufenthaltserlaubnis seien Opfer des Milieus. „Sie fliehen vor der Armut oder aus einem frauenfeindlichen Kulturkreis. Erst die Illegalität zwingt sie ins Gewerbe. Sie ist das Problem Nummer eins, nicht die Prostitution.“
Ob es wirklich stimmt, was so viele der Frauen sagen: Dass sie immer die volle Kontrolle haben, in jeder Situation? Die Soziologin zögert. „Hofft nicht jeder, über sein Leben die volle Kontrolle zu haben?“ Morgens um neun, wenn das Rotlicht ausgeschaltet ist, herrscht ein anderer Alltag im Viertel. Herr Smals steht an der Werkbank im Haus Oudezijds Achterburg Wal 133 und biegt ein Blech zurecht, es macht ein Geräusch, als würde jemand Teller in die Spüle fallen lassen. Der Traktor des Schrotthändlers rumpelt samt Anhänger vorbei, nahe am Wasser entlang, dort, wo am Abend zuvor ein Engländer von seinen Freunden in die Gracht gestoßen wurde.
Hinter den Fenstern stehen leere Stühle, vor die roten Leuchtstoffröhren sind weiße Klöppelvorhänge gerafft. Im Haus Nummer 51 wechselt ein Mann auf einer Leiter Sicherungen aus, nur seine Hosenbeine sind zu sehen. Drüben im Altenheim soll noch der Mann wohnen, der den Mädchen früher die roten Glühbirnen gewechselt hat. Im Star Shop an der Ecke sortiert Klaas eine Lieferung schmutziger Videos ein. Und gleich daneben sitzt bereits die Frühschicht. Blond, in schwarzer Spitze. Sie grüßt freundlich. In einem der verlassenen Fenster liegt auf dem Holzstuhl eine zerlesene spanische Zeitschrift. Ihr abgegriffenes Titelbild zeigt eine glückliche, junge Familie. Vater, Mutter und Kind. Der Vater trägt das Kind auf den Schultern und hält die Mutter im Arm.