Selbstinszenierung 3. Akt – for Gregory

Dem Leben einen Sinn geben – wer wollte das nicht? Und ist das in der vorherrschenden Zeit des Turbokapitalismus, der immer schneller werdenden Zeitläufte, der grossen, natürlich auch medial erzeugten Desorientiertheit der Postmoderne noch möglich? Wie kann man das erreichen, was in der Antike als ausgewogenes Lebenskonzept, als Haltung dem Sein gegenüber, vielleicht noch leichter zu erringen war? Denn, machen wir uns nichts vor, die Existenz, so wie sie heute auf die stetig sich wandelnde Realität mit ihren immer neuen Herausforderungen sich darstellt, muss dem Sein abgerungen werden, man hat sich jeden Tag neu zu definieren, und dazu braucht es Mut, auch den zum Wandel. Die Frage ist, wie weit das zu gehen hat, wie sehr sich das Selbst täglich, ja stündlich verändern kann, ohne das man den Bezug zur eigenen Identität verliert, und inwieweit sich dies – wenn überhaupt – in einer Konsumwelt, wie wir sie heute vorfinden, verwirklichen lässt. Ein Deutungsversuch dazu lässt sich vielleicht wagen, auch wenn es natürlich eine philosophisch-psychologische Herausforderung ist, und es gilt nachzuweisen, dass einer der Wege des Glücks ganz leicht – vielleicht nicht kinderleicht, zugegeben – aber doch zumindest im Rahmen der Möglichkeiten eines Einzelnen erreichbar ist.

Es gibt Meisterinnen darin, kongruent in ihrer eigenen Selbstinszenierung zu leben, und einige sollen hier aufgeführt sein: Nehmen wir nur einmal die göttliche Catherine Deneuve. Immer wieder erfindet sie ihre Rollen neu, und nicht nur die im Film. Wer die sehenswerte Dokumentation über die letzte Couture-Schau von Yves Saint Laurent gesehen hat, trifft eine Deneuve vor dem Spiegel an, wo sie die Kreationen des Altmeisters sich förmlich auf den Leib schneidern lässt, nie um Änderungen verlegen, immer mit dem Blick auf ihr ureigenst Wesentliches, in diesem Fall ihren Körper – ein, wie jede Frau im reiferen Alter weiss (wohl auch die jüngeren), heikles Unterfangen, denn nichts auf der Welt ist wohl grösser als das weibliche Potential zur Selbstkritik. Doch hier geht es um Mehr als das einfach Anprobieren der Kleider (die zugegebenermassen wirklich traumhaft sind) – Catherine, dieses Idol einer, vielleicht zweier, dreier Generationen von Männern wie auch Frauen, die Ikone des französischen Films, transzendiert sich selbst: Sie überlegt bei jeder Wendung ihres Körpers, bei jedem zu verkürzenden Saum, bei jeder zu legenden Falte, wozu sie dieses Kostüm, diese Bluse, diesen Rock denn tragen wird, sie findet sich selbst in der Vorwegnahme ihrer sozialen Gelegenheiten, in denen es zu repräsentieren gilt und in denen sie sich – je nach Anlass, sei es Filmpremiere, Empfang in Cannes oder auch nur einem Spaziergang auf den Champs Elysées – wieder neu einzufinden hat, und der ganze Prozess der Anprobe wird ihr zur Selbstfindung. Das geschieht womöglich, nein, sehr wahrscheinlich unbewusst (Sigmund Freud würde sagen: vorbewusst), weil der Filmstar sich nicht nur seit Anbeginn ihrer Karriere selbst gefunden hat und auch immer wieder selbst findet, ein Umstand nebenbei, der jedem Schauspieler eigentlich innewohnen müsste und der auf das Entschiedenste die gleichmachende Starproduktionsanstalt Hollywoods mit ihren Cruises, Paltrows und Kidmans von den wahren Meistern der Leinwand unterscheidet. Es ist ein kleines Detail, dass Catherine Deneuve vor den Augen Saint Laurents nicht nur eine wirklich intime Zurschaustellung betreibt: Sie unterhält sich auf das Entzückendsde mit ihrer Schneiderin über Hühnerzucht, dass ihr ein Fuchs auf dem Lande ihre Paradehennen gerissen hat, dass sie sich jetzt ein paar Wollschweine angeschafft hat – dazwischen, ganz Eleganz, „und, ist der Ärmel nicht etwas zu voluminös, kann man hier noch etwas taillierter sein, steht mir die Crème Caramel als Farbe wirklich?“ – wobei sie sich nicht nur als gute Kundin des Hauses profiliert, sondern eben auch als interessante und liebenswerte Gesprächspartnerin. Eine Kunst, die heute weitestgehend verloren ist, wie man sich auf jeder Vernissage leichtestens selbst übezeugen kann: Es galt einmal als guter Ton, Konversation zu machen, und eine mir liebe und aus altem Adel stammende junge Freundin gefällt sich bis auf den heutigen Tag darin, vor jeder Gesellschaft ein wenig die Illustrierten zu blättern, die Tageszeitung (jawohl, auch den politischen Teil!), kurz: Themen zu finden, auf dass man etwas zu sagen habe. „Etwas zu sagen haben, damit kommt man weit“ schrieb schon im 18. Jahhrundert der alte Aphorist Lichtenberg, und in der Tat: So lässt sich nicht nur auf das Einfachste die eigene Position zum Geist der Zeit unter Beweis stellen, man er-stellt auch ein ureigenes Charakterbild, man stellt seine Existenz im Sinne des Wortes be-greif-bar dar (auch dies, leider, leider, eine Seltenheit), und man gibt dem Gegenüber, dem Gesprächspartner, der Umwelt die Möglichkeit, sich dazu zu verhalten. Eine herzlichere, emotionalere, wirklichere Position zum Dasein in der Interaktion lässt sich gar nicht denken, und zudem, es sei gesagt, ist sie sehr, sehr billig, ja fast umsonst zu bewerkstelligen. Wenn die Deneuve sich vor dem Spiegel dreht, zudem natürlich auch vor einer Kamera, die sich sehr im dokumentarischen Hintergrund hält, wird sie gewissermassen Symbol der Frau unserer Zeit. Denn es ist ganz egal, ob man bei H&M einen Pulli anprobiert oder ob man sich kurz in der Reflektion einer Schaufensterscheibe überprüft, dies alles ist Teil des Phänomens Selbstinszenierung, wie es unschuldiger und lebensfroher gar nicht sein könnte – nicht umsonst liegt es im Wesen der immer weiter um sich greifenden Zivilisationskrankheit der Depression, dass man nicht mehr auf sich oder andere achtet, doch dies nur ganz nebenbei. Der Spiegel im Spiegel – er verweist auf den Moment der Kunstgeschichte, wie der französische Philosph Michel Foucault schrieb, in dem der Maler Diego Velazquez sein epochales Werk „Las Meninas“ malt, wie es noch heute im Prado zu Madrid zu bewundern ist: Es zeigt vordergründig eine Anprobe der kindlichen Prinzessin Isabella von Spanien im weiss-brokatenen Reifrock. Doch halt, was ist denn das? Da wendet sich im Bild der Maler hinter einer Leinwand dem Betrachter zu, und siehe! ganz klein im Hintergrund des Gemäldes sieht man das spanische Königspaar in einem Spiegel, der genau den Standpunkt des Betrachters reflektiert. Es ist im Wesen der hier gerade geborenen Aufklärung, dass man im Prado vor dem überlebensgrossen Gemälde geradezu zum Königspaar Spaniens wird, soll heissen:  Nicht nur der Monarch ist ein Mensch, sondern jeder könnte es sein. 

Nun haben wir keine absolutistischen Monarchen mehr, das heisst, jedenfalls nicht als Person. Aber die royal definierende Rolle kommt eigentlich der Selbstfindung zu. Man ist ja umtobt von den unterschiedlichsten konsumistisch-medialen Vorgängen, gegen die man sich, wie eingangs erwähnt, zu be-haupten hat. Und es spricht auch für Catherine Deneuve, ohne die Bewunderung für sie ausufern zu lassen, dass ihr das auf beeindruckendste Weise gelungen ist.
Die junge Catherine hatte das Schicksal, die kleine Schwester einer grossen Schönheit zu sein, die dem Film Francaise als noch grösseres Idol schien, die allerdings bei einem tragischen Unfall früh aus dem Leben gerissen wurde. Und es mag sein, dass sie diese Situation der Zweitgeborenheit, des Im-Schatten-Stehens, zu zeitiger Selbstdefinition zwang. Ein Schicksal übrigens, dass sie mit anderen, sich grossartig selbstdefinierenden Menschen gemein hat, nicht zuletzt mit Yves Saint Laurent selbst, dessen Schüchternheit und Introvertiertheit eine Karriere wie die seine fast verunmöglicht hätte, sie aber dann doch nicht – wie stark ist die menschliche Psyche! – unmöglich gemacht hat. Und es ist wohl nicht zuviel gesa
gt, dass beider Karrieren sich seltsamerweise schon in den Fünfzigern anbahnten, noch vor der Revolution der 68, die soviel versprach, und, glaubt man den gegenwärtigen Systemkritiken, dann doch sowenig hielt.

Es ist durchaus im Bereich des möglichen, dass es heute sehr viel schwieriger ist, sich selbst zu finden, ja, dem Leben einen Sinn abzugewinnen, eben weil uns soviele Einflüsse umtosen und es natürlich immer diffiziler wird, sich ihnen gezielt zu entziehen. Denken wir nur an die Berufswelt, den bleiernen Alltag, das minütliche Bombardement von Informationen, die manchmal gar keine sind, und Nachrichten, auf die man lieber verzichtet hätte. Sie gehören zu einem systematischen, ja, sytemimmanenten Programm des postindustriellen Zeitalters, in dem die Individualisierung nur noch als Hemmnis des geistlosen Konsums gesehen wird, voll von falschen Hoffnungen und Versprechungen, und Menschen, die sich über die Dicke des Portmonnaies, der Anzahl ihrer Kreditkarten, der Grösse ihres Autos, der Rastlosigkeit ihrer Zerstreuungen definieren. Dass es da noch anderes, tieferes, mithin wertvolleres gibt, dies Bewusstsein läuft dem bedauerlicherweise vorherrschenden Kulturimperialismus amerikanischer Prägung zuwider. Den letzten Blockbuster sehen, das neuste Handymodell haben, der Mode letzten Schrei besitzen – dies sind die vorgegebenen goldenen Kühe der Massen, und wer dem etwas entgegensetzen will, lese Erich Fromms „Haben oder Sein“. Auch der zeitgenössische Denker Wilhelm Schmid gibt uns seine „Philosophie der Lebenskunst“ an die Hand (erschienen 1998 im Suhrkamp-Verlag, lesenswert!), in der er unter anderem von einem „bewusst gewählten Modus der Existenz“ schreibt, nach der „Erosion der Traditionen, die mit Macht vorgaben, wie zu leben sei“, nach dem „Ende der Utopien“. Lebenskunst ist demnach „die Möglichkeit und die Antstrengung…, das Leben auf reflektierte Weise zu führen und es nicht unbewusst einfach dahingehen zu lassen“, nach einem „bewusst gewählten Modus der Existenz“.

„Gnothi Seauton“ – erkenne dich selbst! stand über dem Portal des Apollo-Tempels in Delphi, womit wir wieder, brandaktuell, in der Antike und ihren Idealen angekommen wären. Es galt den Griechen als ihr höchstes Gut, und vielleicht ist die ja eine Aufforderung, sie auch heute – mehr denn je – ihre Gültigkeit behalten hat. Dazu gehört auch die Fähigkeit, sich selbst zu verzeihen, zu seinen Schwächen zu stehen, und je mehr man sich seiner selbst bewusst wird, desto eher gibt einem das Schicksal Möglichkeiten in die Hand, sich selbst zu finden. Und wenn das keine Hoffnung ist in einer Zeit der Börsencrashs, der unsicheren Zukunft, der bedrohten Arbeitsplätze, der vielbeschworenen Welt des irrationalen Terrors, was denn dann?

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