Selbstinszenierung, 2. Akt

Leben wir eigentlich in einer Reprise des Biedermeier? Wie die Kunst der Selbstinszenierung ausstirbt – oder warum sich heute fast niemand mehr traut, dem grauen Alltag etwas Leben einzuhauchen, in Mode, Wohnung und Privatleben. Kleine Schelte einer immer langweiligeren Gesellschaft, ein längst fälliges Plädoyer für mehr Mut im täglichen Umgang mit sich selbst – und den Anderen

Ein grosser, einmaliger, wirklich toller Auftritt? Eine Glastür scheppernd ins Schloss werfen, so dass der ganze Speisesaal aufblickt und den Blick wendet, und jeder bemerkt: Da hat eine Dame den Raum betreten. Wie, das trauen Sie sich nicht? Nun, eine hat es gewagt. Und es damit in die Weltliteratur geschafft: Madame Chauchat, die kapriziöse, junge Frau aus Thomas Manns “Zauberberg”. Jeden Tag, zu jeder Mahlzeit kündigt die charmante Schöne mit einem kleinen Paukenschlag ihr Kommen an, und es kommt, wie es kommen muss – der Held Hans Castorp verliebt sich unsterblich in sie. Und wer weiss, ohne diesen Hang zur Extravaganz, ohne diesen weiblichen Stolz, ohne dieses selbstverliebte Selbstinszenieren – die Liebe wäre wohl nie entstanden. Zugegeben, man braucht schon etwas Mut dazu, ein gehöriges Quentchen Narzissmus und auch ein wenig Egomanie, um dem grauen Alltag derartiges entgegenzusetzen. “Dass nur noch so wenige Menschen den Mut zur Exzentrizität haben, ist die grösste Gefahr unserer Zeit” sagte schon der englische Philosoph, Nationalökonom, Psychologe und Soziologe John Stuart Mill – und der starb 1873. “Ich möchte unauffällig sein” sagte Howard Hughes – der starb 1976 in einer hermetisch abgeriegelten Suite seines Hotels in Las Vegas, voller Angst vor Mikroben und mit zentimeterlangen Fingernägeln. Zwei gegensätzlichere Aussagen als die von Mill und Hughes lassen sich wohl kaum finden, und zwischen ihnen oszilliert der Mensch von heute. Unablässig. Auf sich selbst zurückgeworfen. Als hätte jemand ein Interesse daran. Da wäre dieser Brei an täglichen Massenmediums-Irrsinn, der täglich auf uns einprasselt, mit der eindeutigen Botschaft “sei gleicher als die Gleichen, trau dir nichts zu, bleib brav zu Haus, verkrieche dich und geh allenfalls mal einkaufen, auf dass die Wirtschaft floriere und dein Job sicher bleibe”. Wem graut nicht vor dem nie-endenwollenden Gezwitscher der Werbebotschaften? Den selbsternannten Stars und Sternchen, die unablässig ihre kläglichen Leben, ihren “Ruhm für 15 Minuten”, wie Andy Warhol das nannte, in der Öffentlichkeit ausleben? Und nur um Missverständnissen vorzubeugen: Von diesen medial erzeugten und abschöpfbaren Inszenierungen ist hier nicht die Rede. Sie sollen sich nicht vermarkten. Ausser vielleicht bei Vorstellungsgesprächen. Es geht um den kleinen, feinen Einsatz wohlüberlegter Mittel, chirurgisch präzise und keinesfalls als Selbstzweck – das bisschen mehr, die Prise minutiösen Effekts, eine gezielte Aufwertung der eigenen Existenz. Kurz: Um einen Hauch Glamour… Als die preussische Königin Luise einmal Lampenfieber hat, als sie sich auf dem Balkon zeigen soll, flüstert ihre Gesellschafterin ihr zu: „Haltung, Majestät, Haltung, Haltung!“ Und natürlich hat sie recht. Denn das Wesen der Selbstinszenierung liegt darin: In der eigenen Haltung, und in der Haltung gegenüber den anderen, der Umgebung, der Gesellschaft. Das ist ganz wörtlich gemeint. Ein erhobenes Haupt, ein wenig Körperspannung, ein leichter federnder Schritt, hochgereckte, gerade Schultern – und schon sehen, ja spüren, die Passanten: Da will jemand wirken. Man weicht respektvoll zurück, man nimmt zur Kenntnis, und der Weg ist frei zu diesem hohen Gut – Bewunderung. Schreiten Sie wie eine griechische Göttin aus den Gesängen Homers, wie Hera, Aphrodite, Artemis es vormachten. Über die Strasse, durch´s Restaurant, das Büro – es ist ganz einfach. Sie werden wahrscheinlich nicht gleich den trojanischen Krieg entfesseln, aber sie werden Effet haben, eine Air, ein Quentchen Anmut. Wie wichtig der richtige Gang ist, beweisen nicht zuletzt die Kenner der Catwalks in Paris, London und New York: Immer wieder wird Bedauern laut, wie sehr sich die modernen Models von den einstigen Mannequins – schon der Name ist Programm! – unterscheiden, weil sie kaum noch wissen, wie man elegant vom einen Ende des Laufstegs zum anderen kommt. Und der grosse Erfolg Naomi Campbells oder die kometenhafte Karriere Claudia Schiffers sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, wie sie gingen. Da lag nichts Gehetztes in ihren Schritten, so wie es heute in den Fussgängerzonen zum traurigen Alltag gehört – da war Esprit, Dynamik, Elan – und eben Grazie. Ein Attribut, das im übrigen auch noch den Vorteil hat, altersresistent zu sein: Wer einmal Sophia Loren oder Lauren Bacall sah, wie sie einen Raum betreten, weiss, was gemeint ist – und der Erfolg einer Debütantin am Hofe Ludwigs XIV. bestand nicht im geringen Masse aus der für alle ersichtlichen Tatsache, wie sie einen Salon durchschwebte, alle Umstehenden mit einem Knicks begrüsste, den Herren ihre Hand zum Kusse reichte und sich dann, ihre Reifröcke raffend, in bezauberndsder Geste setzte. Glaubt man Stefan Zweig, so beherrschte Königin Marie Antoinette diese Kunst auf das Prächtigste. Der berühmte Modefotograf F.C.Gundlach, seit Jahrzehnten ein aufmerksamer Beobachter der modischer Sozialisation, meint dazu: „Jedes Zeitalter entwickelt seine eigene Körpersprache. Ich kann schon allein an der Pose einer Frau erkennen, aus welcher Epoche die Fotografie ist.“ Also, es ja ganz leicht: Einfach vor dem Spiegel ein klein wenig auf und ab gehen, so ein bisschen wie vielleicht Kate Moss, oder, besser noch, wie Audrey Hepburn im Frühstück bei Tiffany´s – und der Tag ist gewonnen.Überhaupt Audrey – sie steht am Ende einer langen Reihe von Frauen, die es perfekt verstanden, sich selbst zu inszenieren, mit ganz einfachen Mitteln. Da wäre die göttliche Garbo, deren Meisterstück es wohl war, sich auf immer in ihr Apartment in Manhattan zurückzuziehen, um ihren jugendlichen Ruhm zu bewahren. Ein Weg übrigens, den auch die Dietrich in Paris einschlug. Nun gut, Sie müssen sich ja nicht gleich unsichtbar machen – aber rar. Man glänze durch Abwesehenheit, um dem nächsten gesellschaftlichen Erscheinen (!!!) noch mehr Glanz zu verleihen. Auch eine peinlich auf Effekt bedachte Auswahl der Events und Festivitäten, die dafür überhaupt in Frage kommen, kann den zu erzielenden Effekt ganz ungemein steigern. Hilfreich sind auch Accessoires. Die rote Handtasche zum Beispiel, die vielleicht nicht immer passt, aber wenn sie denn einmal getragen wird, das graue Kostüm oder die blaue Bluse perfekt ergänzt, erhöht, fokussiert. Die Lack-Pumps, die Sie unbedingt haben mussten, und die nun zum luxuriösen Etwas werden können und jedwedes Outfit dezent adeln. Die Grundeinstellung aber muss heissen: Seht mich an, ich bin ein Star! Das ist auch psychologisch relevant, schliesslich tut man es für sich selbst, für das eigene, wertvoll Wohlbefinden, und wenn das nicht schon Grund genug ist…Es scheint, wir trauen uns einfach nicht mehr, die grosse Geste zu wagen. Ein wenig Schwung in den Tag zu bringen – der immerhin aus 24 Stunden besteht und unendlich vielen Momenten, an denen man dem Fliessen der Zeit mal ein wenig mehr abgewinnen kann. Da wäre auch, man muss es sagen, die Höflichkeit, die Königsdisziplin des gesellschaftlichen Umgangs, im besten Falle der Höhepunkt der menschlichen Begegnung – und sie stirbt, leider, leider aus: Man drängelt sich schon am Gate im Flughafen rastlos und gehetzt aneinander vorbei, der Blick in der U-Bahn ist griesgrämig und zu Boden gesenkt, man grüsst niemanden mehr, vermeidet absichtlich den Augenkontakt und verbirgt sich im Zug hinter einer Zeitung. Man traut sich einfach nicht mehr, aufeinander zuzugehen, das Gegenüber wird zunehmend als Gefahr betrachtet, es könnte ja einer etwas wollen von einem, bloss keine Intimitäten. Dabei ist die reine Höflichkeit schon eine der ranghöchsten und dabei leichtesten Formen, sich selbst ein wenig zu inszenieren: Eine befreundete Stewardess, Susanne, die in ihrem Beruf nun wirklich von den unterschiedlichsten Menschen unterschiedlichster Erziehung quasi täglich bombardiert wird, hat für ihre Tätigkeit ein wirkungsvolles Mittel entdeckt, das sie täglich praktiziert – je unhöflicher jemand wird, desto höflicher wird sie: „Einmal lag ein Tablett auf dem Boden und eine Passagierin deutete nur mit der Hand darauf. Ich sagte, würden Sie es mir bitte anreichen?
Ich kann mich nicht erinnern, es Ihnen auf dem Boden serviert zu haben. Haben Sie vielen Dank…“. Und ein anderer Freund sagt bei jeder Gelegenheit: „Das ist äusserst liebenswürdig von Ihnen.“ Womit der Angesprochene quasi rückwirkend in die Pflicht genommen wird, äusserst liebenswürdig gewesen zu sein – und sein Verhalten in Zukunft auch so zu gestalten. Man kann sich durch ausgesuchte Höflichkeit prima selbstinszenieren, allerlei Honneurs bei der Umgebung einsammeln, dem Alltäglichen ohne besonderen Aufwand eine gewisse Note verleihen und sich danach selbst auch noch besser fühlen. Wie sonst liesse sich mit derart einfachen Mitteln ein derartig durchschlagender Effekt erzielen? Der Berliner Kulturwissenschaftler Thomas Macho schreibt dazu in seinem Buch „Höflichkeit“ (W. Fink Verlag, 39,30 Euro): „Sie ist in diesem Sinn so etwas wie ein Grundwort, ein Topos zivilisatorischer Kreativität, der uns ermöglicht auch in immer unübersichtlicheren Lagen, in denen wir mit viel Unerwartetem konfrontiert werden, Linien zu bewahren, Kontur zu bewahren, ohne sich deshalb allen Anforderungen, Konventionen und Traditionen bedingungslos unterwerfen zu müssen.“ Bedingungslos unterwerfen – dies scheint eines der Hauptanliegen des gegenwärtigen Daseins zu sein – unter die herrschenden Konventionen. Ein anderes mögliches Instrument: Inszenierung in der eigenen Wohnung. Welche Variationsbreiten bietet das Meublement: Die LeCorbusier-Liege etwa, ein Barcelona-Chair von Mies van der Rohe, ein Thonet-Ensemble von Freischwingern, eine deSede-Couch, eine Wagenfeld-Lampe… gewissermassen als Solitair im Gesamtbild, der alles überstrahlt! Zugegeben, billig ist das nicht, aber vielleicht lohnt es sich ja auch, auf ein Möbel-Highlight zu sparen, das einerseits eine Wertanlage voller Bequemlichkeit darstellt und andererseits fast ewig hält und eben immer da ist, wenn man in die Wohnung zurückkehrt, um sich nachhaltig daran zu erfreuen: Da macht es auch nichts, wenn die Schrankwand von Ikea ist, die wird gleich mit aufgewertet, wenn man das Prunkstück in der Nähe effektvoll platziert – schliesslich schwört sogar Altkanzler Helmut Schmidt auf seine Billy-Regale, und die sind ja auch schon fast Design-Klassiker. Ein grosser Spiegel kann dem Privatissime ebenfalls sehr leicht einen Hauch von Glanz und Eleganz verleihen, sehr einfach zu beschaffen und auch nicht sehr teuer… Und auch die Grösse der eigenen vier Wände stellt nicht unbedingt das Mass des Möglichen dar – wir leben schliesslich im Zeitalter der „Flugzeugträger-Apartments“, soll heissen: Man fliegt es kurz an, nach der Arbeit, macht sich frisch, zieht sich um und hebt gleich wieder ab, zum Sport, zu Freunden, zum Italiener um die Ecke. Kein Wunder also, dass gerade in Berlin beispielsweise, der Single-Hauptstadt, die Nachfrage nach schönen, überschaubaren Zweizimmerwohnungen, immens gestiegen ist. Der Kurator des Museum of Modern Art, Klaus Biesenbach etwa, ein Mann, der sehr viel unterwegs ist, unterhält in Manhattan nur ein kleines Pied-à-terre. Und man darf daran erinnern, dass sogar die Privatgemächer Friedrichs des Grossen in Sanssoucis allenfalls 60 Quadratmeter gross waren. Allerdings darf der alte Fritz als wirklich perfekter Inszenator seiner selbst gelten: Er ritt sogar in die Schlacht, beim Angriff auf Dresden im siebenjährigen Krieg, beide Hände mit Brillianten bedeckt. Es geht, gewissermassen, ein bisschen um den roten Teppich. Wie bitte, fragen Sie? Nun ja – natürlich im etwas übertragenen Sinne: Man kennt ihn ja, den normalen, echten, von diversen Bällen, den Filmfestspielen in Cannes, den Staatsbesuchen und bei den Royals dieser Welt – und wollen wir nicht alle einmal darüber schreiten? Einmal im Leben vielleicht? In Wahrheit nur ein Stück Stoff, verleiht der rote Teppich noch den unwichtigsten Menschenansammlungen ein wenig Würde, verwandelt blosse Termine in gesellschaftliche Anlässe, er adelt ein Stelldichein zu einem Treffen der Grossen und Mächtigen – und nicht umsonst führt er in den Opernhäusern der Welt ein stetes Dasein und verleiht den Treppenhäusern wie in der Wiener Oper etwas Aristokratisches, auf dem das Bürgertum schreiten kann und sich selbst erhöhen darf. Es ist eine Tatsache, dass die Foyers der grossen Theater in dem Masse an Grösse und Pracht gewannen, in dem sich die Normalbürger selbst darstellen wollten, um wenigstens einen Abend lang nach Höherem zu streben, im besten Falle nach den Weihen der Kunst. Einmal von den Musen geküsst sein, einmal die Sorgen des Tages vergessen, einmal ein wenig festlich sein und sich daran erfreuen, das ist, im Wesentlichen, die Idee. Man stelle sich einfach vor, man hätte ihn überall dabei. Einen fliegenden roten Teppich vielleicht. Einen, den man zu jeder Tages- und Nachtzeit ausbreiten kann, unter sich und seine Mitmenschen. Und was glauben Sie, wie sich das Leben plötzlich wandelt…