Sunday, November 20, 2005, 23:11
Hätte Zar Nicolaus II. ein Handy gehabt, es wäre ihm viel erspart geblieben.
Man stelle sich vor: Ein kalter, einsamer Abend im Winterpalast, die kaiserliche Familie am Kamin,
Die Zarenfamilie
die Zarin stickt ein wenig, die Töchter werfen sich ausgelassen juwelenbesetzte Ostereier zu, plötzlich ein Klingeln in der Brustgegend des Herrschers, gleich unter dem Wassily-Großkreuz. Man hält inne, man schweigt, der Zar klappt sein Motorola auf und sagt: „Ja, hier das Oberhaupt aller Russen?“ „Tag, Hoheit, hier Wladimir Iljitsch, Sie erinnern sich vielleicht nicht, aber ich bin gerade in Genf, ein Ferngespräch, könnten Sie mich zurückrufen, ich hätte da ein paar Vorschläge.“ Man ruft zurück, man redet von Aristokrat zu Revolutionär, man einigt sich: „Ja, ganz recht, konstitutionelle Monarchie, wie bei Viktoria, o.k. o.k., danke, Herr Uljanow, und meine Empfehlung an die Genossin Gattin.“ So etwa, und den Gulag hätte es nie gegeben.
Dabei hatten sie den Dreh mit der Erreichbarkeit schon raus, die Romanows, nur mit der Technik haperte es noch: Eine Wache am Telefon ließen die Verwandten zur Geburtsstunde des Zarewitsch im Jahre 1904 zurück, auf daß die frohe Kunde sie im weitläufigen Park zu Peterhof rechtzeitig und zuverlässig erreiche. Diesen vielleicht ersten aller Anrufbeantworter, einen Kosaken in weißer Marineuniform, erinnert kein Geringerer als Prinz Roman Romanow in seinen Memoiren, die auf vielen Seiten in der Sprache des 19. Jahrhunderts von dem handeln, was das zwanzigste ausmacht: von der Erreichbarkeit.
Allein die Pose beim Telefonieren scheint die Zeiten zu überdauern: Sieht man heute jemanden ein Handy ans Ohr pressen, dann häufig mit der Miene, als sei Napoleon kurz vor Moskau. Nicht selten schreien die Angerufenen, als ob sie gar keines Telefons bedürften, und lassen nebst Anrufer alle Umstehenden mit taub werden: „Ich bin hier vorm Kranzler!“ Das sehen wir doch, und leider hören wir es nun auch. Damit aber die Handy-Revolution nicht ähnliche Unpäßlichkeiten bereitet, wie sie die Romanows erleiden mußten, hier ein paar leicht erlernbare Grundregeln:
1. Unerreichbare sind begehrter. Wer immer Zeit hat, hat zu viel Zeit.
2. Lebende Gesprächspartner sind immer, immer, immer wichtiger als Anrufer. Und gebührenfrei.
3. Im Auto, Restaurant und an der Straßenecke telefonieren nur Luden, Staubsaugervertreter und Politiker.
Momentchen, mein Handy klingelt. Ich glaube, das ist Anastasias Nummer. Da wird doch nichts passiert sein?