India

Ulf Pape weilt in einem Studienauftrag – wenn ich nicht irre – vor Ort. Den folgenden Artikel würde ich „Mumbai Free Jazz“ nennen. to be (hopefully) contd.

BOMBAY-MUMBAI – by our special correspondent Ulf Pape


Ihr Lieben,

auch wenn wir alle keine Freunde von Sammel-Mails sind: ich hab kaum Zeit, immer noch
keine indische SIM, möchte euch aber aus meiner immer noch andauernden Fassungslosigkeit
heraus ein paar Eindrücke mitteilen, die ich in Indien gesammelt habe.

So viel ich mich im Vorfeld auch mit dem bevorstehenden Kulturschock beschäftigt habe – er kommt
heftiger als man denkt.

Als wir an einem Dienstagmorgen um vier Uhr mit frischen Visumsstempel aus dem Flughafengebäude
getreten sind, habe ich zuerst gar nicht bemerkt, mich draußen zu befinden – Zimmertemperatur. Außerdem
ein Spektrum von Gerüchen, die ich niemals zuvor gerochen habe. Das Auffälligste ist, dass in Mumbai immer
Rauch in der Luft liegt, als würde Holz glimmen. Hinzu kommen schwere Blütendüfte, die Essensgerüche von
den unzähligen Ständen und natürlich all der Gestank von Kloake, Müllbergen, Verwesung und Abgasen.
Diese Gerüche wechseln von Sekunde zu Sekunde und man weiß nicht woher sie kommen – aber
sie durchdringen alles. Selbst Seifen, Parfüms und Waschmittel riechen hier vollkommen anders.

Mit rissigen Seilen werden meine Koffer auf das Dach einer uralten schwarz-gelben Klapperkiste gebunden – die
Taxifahrt durch dunkle Nacht zu unserem Apartment. An der ersten roten Ampel ragt das dünne Ärmchen eines
vielleicht sechs Jahre alten Jungen durch das offene Fenster. „Chocolate? Chocolate?“

Die Straßen haben keine Schlaglöcher, sondern Krater. Links und rechts davon nur Müll, Baracken, Haufen,
Wracks – alles irgendwie grau, braun, dunkelgrün, dunkelrot – und es wimmelt von Menschen – um fünf Uhr
morgens. Was ist das alles? Planen wehen durch die Gegend. Fliegender Müll. Männer in zerrissenen Kleidern
sprinten durch die Kolonnen von Lkws, die nur noch durch die Last zusammengehalten werden, die sie transportieren.
Und auf den Ladeflächen dieser Lkws – auch überall MENSCHEN, funkelnde Augen in der Nacht. Die ganze Stadt
wimmelt. Ein Ameisenhaufen. Ein wucherndes Geschwür. Überall tut sich irgendetwas auf. Was an den Straßenrändern
liegt, sind keine Säcke, sondern schlafende Menschen. Überall.

Der Taxifahrer verpasst unsere Ausfahrt, fährt auf der Autobahn rückwärts zurück, ein Bus muss abbremsen und sobald
der Bus steht, springen mitten auf der Fahrbahn etliche Leute aus ihm heraus und rennen in alle Richtungen. New York
is the city that never sleeps??? – meet Mumbai! Das dröhnende Dauerhupen des Verkehrs hier wird auch in Hamburg
noch in meinem Gehirn nachklingen.

Umringt von einer Mauer stehen Siebziger-Jahre-Hochhäuser mit vergitterten Fenstern, in denen sich unser Apartment
befindet. Schwärme von kreischenden Krähen umkreisen sie – daher die Gitter. Was für eine Ankunft. Als uns gerade
erklärt wird, wie ein indisches Badezimmer funktioniert, ruft aus der Ferne der Muezzin in das Morgengrauen hinein,
begleitet von den Krähen. Und so warm es auch ist. Es ist das kalte Grauen. Dazu die Gerüche.

Das indische Badezimmer kennt keine Dusche und erst recht keine Wanne. Badewannen sind einer der Gründen, warum
Inder uns mit einem gewissen Ekel begegnen – weil wir in unserem eigenen Dreck dümpeln. Die indische Körperpflege
ist höchstpenibel und die Wohnungen werden täglich in langer Prozedur von Personal gereinigt. Ist der Dreck erst vor der
Tür, kann er liegen bleiben. Alles paradox. Im Bad findet man jedenfalls nur einen riesigen Bottich, den man mit warmen
Wasser volllaufen lässt, um dann mit einem kleinen Gefäß daraus zu schöpfen und das Wasser über sich zu schütten.
Gewaschen wird sich mit der linken Hand. Mit der rechten wird gegessen.

Das Essen

Gegessen wird ohne Besteck. Reis mit scharfem Matsch und Chutneys wird mit Roti, kleinen Brotfladen, zusammengeschoben
und dann in den Mund gesteckt. Und das ist auch in den feinsten Oberklasse-Restaurants so. In unserem Haus darf laut Besitzer
überhaupt kein Fleisch zubereitet werden – und tatsächlich lebe ich hier von Linsen, Reis, Okra, Auberginen, Blumenkohl,
Bohnen, Kartoffeln, Zwiebeln, Erbsen, Curry, Ingwer, Koriander, Kreuzkümmel und etlichen Dingen, die ich schlichtweg nicht
kenne. Unsere Köchin verwandelt das in Mahlzeiten, deren Farben ich beim Essen selten gesehen habe.

Farben.

Meine Lieblingsfarbe in Mumbai war anfangs ein gedecktes Rot, das man überall auf dem Boden und an Wänden sieht. Seit
ich weiß woher es kommt, mag ich es weniger. Betelnüsse. So wie man in Deutschland Zigaretten raucht, kauen Männer hier
Betelnüsse. Die Nuss kauft man zerstoßen, eingewickelt in irgendein Baumblatt, das dann komplett zerkaut wird, etwa eine halbe
Stunde lang. Die dicken Backen der Rikscha-Fahrer. Dicke Backen in der Bahn. Überall dicke Backen. Und dann wird es
ausgespuckt. Das sind die roten Flecken. Inzwischen sind meine Lieblingsfarben die Farben der Augen. Solche Augenfarben
gibt es in Europa nicht. Braun-grau, grün-grau, blau-braun. Warm. Und natürlich die vielen Farben der Kleider, die die Frauen
hier tragen. Saris.

Der erste Tag an der Uni. Ein kleines Dorf verfallener Häuser. Wenig Studenten, viele Tiere. In den Bäumen hängen Fledermäuse,
die so groß sind wie ein deutscher Dackel. Die Flügelspannweite dürfte einen knappen Meter betragen. In der Mensa liegen
Straßenhunde unter den Tischen. Durch die Flure hüpfen Krähen. Aus allen Wänden ragen offene Kabel. Vor dem
Germanistik-Institut liegt ein Berg verschrotteter Toilettenspülkästen von Pflanzen umrankt. Irgendwo auf einer vertrockneten
Wiese steht ein rostiges Schild auf dem geschrieben steht: „National Institute of Nanotechnology“.

Das also ist das Land, das uns die Zukunft diktiert.

Was auch immer ich hier sehe – ich verstehe es nicht. Und jede Antwort, die man bekommt, wirft hundert neue Fragen auf.

Der Stadtteil, in dem wir leben, heißt Bandra und gilt als Boom-Town, was nichts daran ändert, dass zweihundert Meter von
unserem Wohnblock ein Slum beginnt. Die Grenze zum nächsten Stadtteil zieht ein Fluss, der nichts anderes ist als eine
brodelnde, dampfende Kloake, deren Gestank derartig beißend ist, dass einem schwindelig davon wird. An seinen Ufern
überall Hütten. Wimmeln. Und dann plötzlich Glaskästen. Banken. Bollywood-Studios. Ein Audi-Händler. Baustellen, Baustellen,
Baustellen. Markt. Geld. Zukunft. International. Meckernde Ziegen auf den Gehwegen. Kleinkinder, die mit nacktem Po auf einem
Kantstein hocken. Der Schopf wimmelt vor Läusen. Die Baugerüste, die um diese verspiegelten Glaskästen herumstehen,
bestehen aus Bambusrohren, die mit Stricken verknotet werden. Die allgegenwärtige Gleichzeitigkeit der heftigsten Widersprüche.
Mumbai – das ist Apokalypse und Frühlingserwachen in einem. 20 Millionen Menschen, beinah die Hälfte davon in Slums.
Ein Gewirr von Sprachen. Marathi, Gujarati, Hindi, Urdu, Englisch –

und Deutsch. Da stehe ich tatsächlich an einem Donnerstagmorgen unter einem ratterndem Ventilator vor indischen Studenten
und kann mich darauf verlassen, dass sie nicht nur das Metrum von Eichendorffs Gedicht „Sehnsucht“ bestimmen können – Daktylen
und Trochäen – sondern auch dass sie Eichendorffs gesamtes Romantik-Konzept erklären können. Morgen früh wird Homo Faber
charakterisiert. In welche Richtung ich hier auch schaue oder denke – ich bin fassungslos, überwältigt und ratlos.

Und wenn ich in meiner Beschreibung jetzt auch noch über die ersten Eindrücke hinausgehen würde, und erzählen würde, wie die
Menschen hier auf mich wirken, würde die Mail zu lang. Die Liebenswürdigkeit, die aus den Gesichtern lächelt. Das indische
Kopfwackeln, von dem ich vorher gar nichts wusste. Die scheinbare Abwesenheit von Aggression und Frustration. Das komplett
andere Verständnis von Liebe… eine andere Mail.

Alle drei Tage kocht der Schock in mir hoch und ich muss kurz einen von euch in Deutschland anrufen oder chatten, um mich zu
vergewissern, dass es die Realität noch gibt. Die andere – die deutsche Realität.

Wie gesagt: die Augen brennen, die Ohren sausen, das Gehirn brummt, der Magen grummelt, die Lunge rasselt. Ich bin hellwach
und dauermüde.

Mumbai, ich liebe dich. Aber um Hamburg zu wissen, ist ebenso beruhigend wie der Gin Tonic, der mir gerade gebracht wird.

Bis dann – Ulf

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