Mir fällt eine Anekdote ein, die mir mein Urgroßvater Marmaduke einmal erzählte. Er hatte den Fall Oscar Wilde aus nächster Nähe miterlebt, und am 5. April 1895, zu dem Wilde verurteilt wurde, hatten die Justizbeamten die Überstellung des Arrests solange verzögert, bis der letzte Zug nach Dover abfuhr. Vorher hatte man Wilde die Flucht auf einer Yacht angeboten, die einem jüdischen Geschäftsmann gehörte, den Robert Harris, Wildes Getreuester, kannte. Als er sich
erkundigt, ob er die Yacht, die bei Erith liegt, für einen Monat chartern kann, will der Businessman den Grund wissen. Und Harris legt die Gründe dar, man wolle Wilde außer Landes schaffen. „In diesem Fall nehme ich nichts.“ Der Plan wird verworfen.
„Zu diesem Zeitpunkt hatte ich aus Gründen, die nur mich etwas angehen, einen Anwalt im Gerichtssaal. Als das Urteil fiel, eilte er an einen Fernsprecher und rief in Darlington Hall an. Gladis und ich packten sofort, die Villa in Paris und das Haus in Nizza hatte ich schon in Kenntnis gesetzt. Auch der Zug stand in Edinburgh bereit, ich orderte ihn sofort hinab und transferierte große Mengen Geldes. Ich sagte zu Gladis, sie solle nur den Schmuck mitnehmen, ich würde ihr alles neu kaufen. Ich, wir, waren durch den Hammerschlag am Old Bailey eines alten Freundes wegen auf der Flucht. Ich vergaß meine Manschettenknopfsammlung, aber Gravis, my man, mein Vermögensberater, schaffte sie rechtzeitig in die Schweiz…“
Meine Urgroßmutter Gladis schrieb dazu in ihren Memoiren „Reminicsences of a Lady“: „Wir hatten gerade erst geheiratet und mich hatte schon bei meiner Ankunft in Darlington Hall die Schönheit der männlichen Bediensteten überrascht. Einer der Gärtner war ein irischer Elf, schwarzes Haar, fragilster Körperbau, einen Teint weiß wie Schnee. Der Chauffeur war ein Deutscher Hüne reinsten germanischen Wassers, man hätte in den goldenen Vierzigern ihn wohl zu den Ariern gezählt, aber das ist ja lächerlich, Enno kam von einer friesischen Insel und war sogar einmal Auto-Rennen gefahren. Niemand brachte mich je schneller und eleganter zum Markttag, als er. Er bremste so gut wie nie. Nur Fürst Yussupow in Paris, als er Taxifahrer war, fuhr ähnlich elegant, aber schließlich hatte er auch den ersten Rolls Royce vor der Revolution, so etwas hatte nicht einmal der Zar…(…) Marcel, mein Reitlehrer, kam aus Marseilles und Anthony, meines Mannes Kammerdiener, war einer der schönsten jungen Männer, die ich je gesehen hatte, fast wie ein kleiner Antinoos. Er schwamm sehr gut und hatte Marmaduke einmal das Leben gerettet…(…) Ich war ein junges, dummes Ding, und sehr unschuldig.Einmal kam ich ins Schlafzimmer und wunderte mich, warum Antoine meinem Mann in der Sauna aufgewartet hatte, und ihn nun selbst im weißen Morgenmantel bediente, aber ich sah die Rechnungen des Guts auf dem Tisch, sie mochten wohl durchgearbeitet haben die Nacht über. Als unser Privatzug in Darlington ankam, reisten wir mit der gesamten männlichen Dienerschaft, um dann in Waterloo Station, wenn ich nicht irre, in den Zug nach Dover zu gelangen. Wilde war nicht an Bord. Aber der Sekretär des Premierministers, der französische Botschaftsattaché in Begleitung Lord Hemsleys, der gerade erst 17jährig den Titel geerbt hatte, Perceval Ingram, der Maler, mit dem Archivar des British Museums – die Crème Englands war dort, Ephrain Melmoth, der Ruderer, der gegen Cambridge gewonnen hatte, er stand in der Nähe eines ungarischen Aristokraten, mit dem ich schon getanzt hatte. Ich sah allein drei Tänzer des Ballet Russe, ganz London hatte ihnen am Abend zuvor noch zugejubelt. Marmaduke kannte viele, und er stellte mich vielen vor. Das Schiff selbst hatte Offiziere aus der Leibgarde an Bord und sogar einen Jungen, der wohl der Sohn eines irischen Schafzüchters war und das Färberhandwerk erlernte – sein Vater hatte ihm ein Pfund für die Schiffspassage mitgegeben. Ich kann wohl sagen, dass ich nie wieder in der Gesellschaft so vieler Gentlemen in Vollendung mich befand.“
Der Stallbursche des Prinzen Valois erspähte schließlich meinen Urgroßvater und verwickelte ihn in ein Gespräch zu dem letzten Ascot-Rennen, meine Urgroßmutter zog sich zurück, und am nächsten Morgen hatte sie einen neuen Reitknecht. Wilde indessen war verhaftet.
Marmaduke, III. Lord Darlington erzählte oft, wie fassungslos Gladis auf der Treppe gestanden hatte. „Gladis, wir reisen ab. Paris.“ „Aber Morgen ist der Ball bei den Fauntleys.“ „Vertrau mir, Fauntley sagt ab.“ Eine halbe Stunde später kam das Billet: „Marmy, ich verlasse England. Tu dasselbe. Reginald.“ „Ich verbrannte den Brief sofort, mit einigen anderen. Erst später erfuhr ich, das Hoskins, der Waffenmeister, die Jagdgewehre schon hatte laden lassen. Ich wäre wohl nicht
ohne Blutvergießen verhaftet worden. Er war es auch, der mir die Duellpistolen in die Hemden legte. Der französische Zoll entdeckte sie zum Glück nicht. In Calais wartete der Wagen des Marquis de Chartre, und wir konnten die ersten Tage auf dem Chateau bleiben, weil das Haus in Chantilly noch nicht bezugsfertig war. Ich telegrafierte an Lord Alfred Douglas, aber er war schon im Hôtel de la Poste in Rouen zusammen mit Robert Ross und Reggie Turner. Bosie schrieb irgendwann irgendeinen schwülstigen Unsinn. Ich sah ihn nie wieder.“ Ich erinnere mich, dass Anthony noch immer in den Diensten meines Urgroßvaters war.
An seinem 90. Geburtstag hielt ich eine Rede, ein Regiment in Kilts war erschienen, Gladis trug alabasterfarbenes Chanel, die 1600 Gäste blieben sechs Stunden. Beständig fragte er, ob für alle gesorgt sei. Beim Rommé am nächsten Abend, das ich mit einer Hand gewann, meinte er, „Kein Wunder, dass der Bürgermeister nicht mit dir sprach. Du bist ihm zu klug.“ Ein größeres Lob hatte er mir nie gemacht.