Rezensionen zu kultur und gespenster

Wir raten zu

Kultur & Gespenster

Sie wollen »mehr als eine Zeitschrift« sein, aber zugleich »noch kein Buch«, so haben es die Gründer von Kultur & Gespenster um Gustav Mechlenburg einmal formuliert. Wer sich also bereits genretechnisch bewusst zwischen die Stühle setzt, hat einen idealen Gestaltungsraum: Denn zwischen den Stühlen (die man in diesem Fall Theorie & Praxis, Kulturwissenschaft & Pop, Kunst & Literatur oder Text & Bild nennen könnte) schwebt man kurz, hat Luft zum Atmen, und direkt darunter ist, man beachte die Fallhöhe, der Boden der Wirklichkeit. Genau in diesem Zwischenreich entsteht jener »Diskurs-Pogo« (Enno Stahl) von Kultur & Gespenster, der dieses Zeitschriftenbuch zu einem der interessantesten deutschen Phänomene macht, die man abonnieren kann. Die aktuelle Ausgabe ist dem Thema »Hochstapler« gewidmet – und wie sich hier die Lust auf grafisches Spiel, rücksichtslose Intelligenz, grenzenlose Neugierde und stilistische Vielfalt auf 250 Seiten mischen, ist, um tiefzustapeln: zumindest erhebend. Es spricht für das Rhythmusgefühl von Kultur & Gespenster genauso wie für deren so weiten wie präzisen Kulturbegriff, wie hier nicht nur feinsinnige Bildstrecken auf grobkörnige Bleiwüsten folgen, sondern auch, wie historische Texte lässig und konsequent mit Zeitdiagnosen verknüpft werden. Es sind immer die interessantesten Phänome, die selbst ein neues Genre begründen. Wir raten dringend zum Abonnement.

DIE ZEIT, 12. 11. 2009, Florian Illies

Kultur & Gespenster Nr. 9/2009; Textem Verlag, Hamburg (www. textem.de); 246 S., 12,– € (Abo: 4 Hefte 45,– €)

Hochstapler

Roberto Ohrt, der Situationismus-Experte aus Hamburg, hat die neue Ausgabe von Kultur & Gespenster zusammengestellt, die sich dem Thema Hochstapler widmet, aber nicht einfach so, sondern „I/II“. Ob man dabei (wie der Rezensent) ein braunes Cover mit dem jungen Schmalz-Elvis oder ein graues Cover mit dem alten Fett-Beuys erwischt, ist eine Sache des Zufalls.
Es soll Leute geben, die das Wort Hochstapler hören können, ohne dabei sofort an Walter Serner zu denken. Ihnen, aber auch den altgedienten und hart gesottenen Serner-Fans zu Freud und Frommen beginnt das Heft mit einem Auszug aus Letzte Lockerung. Ein Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen, einem Buch der Tricks und Finten, aber auch des Handwerksstolzes und des aufrechten Gangs trotz diebisch züngelnder Gaunerfinger. Das Buch, spätestens seit Helmut Lethens Verhaltenslehren der Kälte als ein zentraler Text der klassischen Moderne kanonisiert, wird vom zunehmend unentbehrlichen Enno Stahl heiter kommentiert, ehe Frank Apunkt Schneider über den „Fake als künstlerische Strategie“ schreibt und dann – auch mit Roberto Ohrt – über Georg Paul Thomann plaudert, einen „von der Wien-Graz-Bamberger Gruppe monochrom erfundenen österreichischen Großkünstler, dessen Weg durch das späte 20. Jahrhundert markante Punkte und Positionen der Gegenkulturgeschichte sowie der künstlerischen Avantgarde miteinander verbindet“. In diesem turbulenten Gespräch purzeln die Erkenntnisperlen nur so aufs mit schwarzer Auslegeware geschmückte Diskursparkett: „Also Thomann [so Schneider] kann sich immer auf alles beziehen, was wir wissen. Und ich finde diese Art von investigativer 70er- und 80er-Jahre-Kunst auch gut, aber es fehlt immer der Spaß dabei. Bei einem Günter-Wallraff-Buch kann man ja kaum lachen. – Du meinst diesen humorlosen politischen Ansatz [so Roberto Ohrt], vorneweg geht es um Aufklärung, und die unfreiwillige Komik bei Wallraff ist kein Thema, die Selbstporträts, die man dann kennt: Klebt sich einen Bart an, sieht aus wie Günter Grass, kann sich dann einschleichen mit ’nem Käppi auf – das sieht doch alles ganz lustig aus. Gelten soll aber nur die Aufklärung.“
Einmal mehr überzeugen die Bildbeiträge der neuen Ausgabe, vor allem die sechzehn spannungsvollen Parallelporträts aus dem Video „Elvis Beuys“ von Manuel Zonouzi, die die beiden Herren in sich oft verblüffend gleichenden Posen und Settings zeigen, als würden sie bloß erstaunlich ähnliche öffentliche Erwartungshaltungen bedienen, was bei Beuys stärker überraschen mag als bei Elvis. Sehr schön auch Thorsten Passfelds Comic „Ulrike und die Anderen“, ein Lebensdrama, das im Kreißsaal beginnt, wo die lieben Mitgeborenen Sätze wie „Ich bin aus reinem Gold!“, „Ich kann fliegen!“ oder „Ich kann Karate!“ ausstoßen, während es bei Baby Ulrike nur zu „Oje. Ich habe nichts und kann auch noch nichts. Am besten stell ich mich schlafend“ reicht.

Am Erker, Zeitschrift für Literatur
32. Jahrgang 2009. Nr. 58

Schuld und Bühne

Wirtschaft als das Leben selbst

Ein Jahr, bevor Christoph Schlingensief an Krebs erkrankte (worüber er dann ein Buch veröffentlichte), drehte Cordula Kablitz-Post einen Dokfilm über das Verhältnis von Leben und Kunst bei dem Theatererweiterer. »Die Piloten« heißt dieser Film. In einer Szene liegt Schlingensiefs Vater »ganz real im Sterben«, wie der Zeitschrift Polar, Heft 2/2009, zu entnehmen war. »Auch dies wird in eine mediale Inszenierung überführt: Schlingensief streichelt in der Talkshow die Hand eines Schauspielers, der seinen Vater darstellt. Nach der Sendung ist er vom Gedanken an den sterbenden Vater, aber auch über den Zynismus seiner Inszenierung zu Tränen erschüttert. Er weint. Ein Moment größter Wahrhaftigkeit. Doch Schlingensief schaut mit verheulten Augen ins Objektiv und sagt: ›Ja, das ist ja jetzt auch Scheiße. Mit der Kamera ist das auch nicht echt‹.«

Schlingensief will die Widerspiegelungstheorie beim Wort nehmen und bis an ihre Grenze gehen: »Talk to end all talk« war angeblich das »Motto« des Dokfilms. Fast noch »naturalistischer« hat das jetzt der schwedische Filmer Patrik Eriksson angepackt – die Trauer. Seine Freundin hat ihn verlassen, er sucht krampfhaft – über alle Medien – nach einer neuen. Dabei filmt sich der selbstmitleidige Regisseur selbst mitleidlos: »An Extraordinary Study in Human Degradation«. »Aufrichtig« nennt die Filmkritik das.

Schreiber ertappen sich in interessanten Situationen mitunter dabei, daß sie bereits mit dem Formulieren, also mit der Verwertung, beschäftigt sind. Sie hätten das gar nicht nötig, denn anders als bei Film oder Hörfunk können sie sich auf ihre Erinnerung verlassen, müssen keine Bilder oder O-Töne aufnehmen.

Seit dem Boom der Internet-Foren und der Handy-Fotografie sollen immer mehr reale Lebenssituationen durch den Einsatz von Medien etwas werden, das tatsächlich stattgefunden hat. Unweigerlich führt das zu einer »Krise der Wirklichkeit«, die immer mehr zu einer medialen wird. Die llusion wird das Reale.

Für Hochstapler gilt das schon lange, sagt der Publizist Thorsten Pannen, und zitiert Felix Krull: »Die wirkliche Welt ist in Wahrheit nur die Karikatur unserer großen Romane!« Pannen hat sich ausführlich mit den Spezialisten für Standesunterschiede befaßt: »Ingeniös beherrschen sie alle relevanten Vokabulare – und ob sich dahinter eine Wirklichkeit verbirgt, ist für sie völlig irrelevant. Sie setzen Realität!«

Die allgemeine Medialisierung ist auch an Pannens Hochstaplern nicht spurlos vorübergegangen. In der neuen Ausgabe der Zeitschrift Kultur & Gespenster über »Hochstapler« schreibt Pannen: »Der postmoderne Hochstapler ist keiner mehr, weil er sich seiner Täuschung nicht mehr bewußt werden kann. Er ist die Täuschung, und sie ist der Kern seiner täglichen Arbeit, sein Material, an dem er sich professionell und verdienstvoll abarbeiten kann.«

Für alle Hochstapler gilt: »Die Täuschung (das Vortäuschen der Zugehörigkeit zu einer höheren sozialen Schicht, H.H.) muß immer weiter gehen als der Verdacht« (La Rochefoucauld).

Umgekehrt verfahren die »Tiefstapler«; eine interessantere, aber auch seltenere soziale Spielart, weil sie viel mehr abverlangt. So meinte zum Beispiel der Hochstapler Gert Postel in einem späteren Interview, er »hätte ja nicht die Rolle des Bäckers spielen können«, weil er dabei sofort aufgeflogen wäre. Aber als falscher Psychiater und Weiterbildungsbeauftragter der Ärztekammer konnte er sich sogar »Krankheitsbegriffe« ausdenken: »Keiner da traut sich, eine Frage zu stellen.«

Junge Welt, Helmut Höge, 27.10.2009 / Feuilleton / Seite 12

Hochstapler – Marionetten des Status quo

WDR, 20. 10. 2009, Mario Angelo

Die Nummern 8 und 9 des famosen Magazins „Kultur & Gespenster“
Version 1.0

Autor
Wir sind uns schon lange nicht mehr sicher. Ständig fragen wir

Ton 1
(Diverse Stimmen:) Echt? / Wirklich? / Jetzt echt? / Tatsächlich? / Ne? Echt? / Wirklich wahr? / Echt? / Jetzt wirklich, oder? / Echt? / Echt?

Autor
Nachdem die Welt dank technischer Entwicklung und Eskalation ein fortgeschrittenes Stadium ihrer technischen Reproduzierbarkeit erreicht hat, ist uns die Idee und Empfindung des „Echten“ abhandengekommen, hat buchstäblich an Bedeutung verloren. Der kürzlich enttarnte Analogkäse imitiert mit seinen Pflanzenfettbestandteilen das genuine Milchprodukt. Echt? – Nein, dafür immerhin analog. Auto- und Maschinenbauer, Baumeister und Statiker prüfen die Materialsicherheit ihrer Konstruktionen in der virtuellen Realität von Computersimulationen. Echt? – Ja, einfach mal angenommen. Auf dem Buchmarkt reüssieren erfundene Tatsachenberichte. Echt ausgedacht. Wer eine fremde Gegend wie seine Westentasche kennt, muß nicht zwangsläufig (körperlich) dort gewesen sein.

Mit den zunehmenden Verwandlungsmöglichkeiten der dinglichen Welt haben sich auch deren Bewohner Camouflagen zugelegt, die Selbstschönfärbern und Selbstzweckdienern Überlebensgelegenheiten in Gestalt fingierter Existenzen eröffnen. So mancher Eigenartgenosse entpuppt sich als charaktersimulierender Möchtegern. Wer an sich selbst glaubt, muß nicht zwangsläufig der sein, den er uns glauben macht.

Blender, Bluffer und Bauernfänger, Hasardeure, Heiratsschwindler und Hochstapler sind geläufige Figuren, die die Wirklichkeit und ihre Abbilder in reicher Zahl bevölkern. In mannigfaltigen Masken pflegen sie den Betrug in Handel und Wandel. Unstudierte Ärzte und Rechtsanwälte, geschichtenlose Abenteurer, ahnungslose Anlageberater nähren sich eindrucksvoll von dem Umstand, daß der Schein unser Sein bestimmt. Die Welt will betrogen sein, sagt der Volksmund.

Ton 2
Was mich daran reizte, war, daß wie weit man Menschen kriegen kann, derartige Geschichten zu glauben und jeder hätte wissen müssen, das kann nicht sein.
Jürgen H., Hochstapler

Autor
Nun macht eine ungewöhnliche Zeitschrift darauf aufmerksam, daß die Facetten der Individualitätssimulation über das schnöde Betrugswesen hinausreichen und erzählt von den Gespenstern, „die am Rand der Medien die Kontrolle über ihre Identität riskieren, ob nun vorsätzlich oder unfreiwillig, als Kriminelle oder Doppelgänger, durch offizielles Photo-Shop-Lifting oder als virtuelle Investition.“

Das dreimal jährlich in dickem Buchformat erscheinende essayistische Periodikum „Kultur & Gespenster“ widmet jede seiner Ausgaben – streng und schräg, poetisch und sachlich, witzig und gehaltvoll – einem einzigen Thema. Manchmal wuchern die Ideen und Stimmen der ins Visier genommenen Gegenstände und die Herausgeber des extravaganten Magazins breiten ihr Thema über zwei Hefte aus. Die neue (und neunte) Ausgabe von „Kultur & Gespenster“ setzt das (in der im Frühjahr erschienenen Nummer acht) begonnene Thema fort: Hochstapler.

Keiner kurzatmigen Aktualität verpflichtet, flanieren Autoren aus Literatur, Kunst und Kulturwissenschaft, Fotografen, Bildende Künstler, Comic-Zeichner durch das weite Terrain der Vortäuschung des Andersseins. Die beiden „Kultur & Gespenster“-Buchhefte addieren sich zu einem 480 Seiten starken Kompendium der Posen, Masken und Fassaden inszenierter Selbstbehauptungen.

Ton 3
Ich hatte nie ein Produkt. Ich hab nur Luft verkauft wie einen Traum.
Marc Z., Hochstapler

Autor
Roberto Ohrt erzählt in seinem Essay „Herr Ubu mit den blonden Zähnen“ die Geschichte der ersten Direktorin des 1996 eröffneten Kopenhagener Kunstmuseums „Arken“. Anna Castberg wurde 1948 in der dänischen Kleinstadt Holbaek geboren, ihr Vater war ein weltberühmter Atomphysiker namens Jörgensen, der in die USA auswanderte. Sie studierte in Oxford und an der Sorbonne. Sie promovierte in London in Kunstgeschichte, in Kopenhagen machte sie ihren zweiten Doktor. Anna Castberg beriet die Regierung der Tschechoslowakei bei Kunsteinkäufen, geriet im faschistischen Spanien Francos ins Gefängnis und wurde eineinhalb Jahre lang gefoltert und vergewaltigt. Nach der Freilassung heiratete sie einen amerikanischen Millionär und beriet als kundige Kunsthistorikerin die großen Londoner Auktionshäuser. Die dänischen Behörden waren von ihrer Biographie und ihren zahlreich vorgelegten Empfehlungsschreiben beeindruckt und kürten sie 1993 zur Herrin über das neue Museum ohne eigene Kunstbestände. Anna Castberg sollte mit ihrem ganzen Fachwissen und ihren glänzenden Kontakten in der internationalen Kunstwelt eine eigene gewichtige Kunstsammlung aufbauen.

Im Sommer 1996, kurz nach der Eröffnung des Hauses, kündigte der Museumsvorstand seiner autoritär und unnahbar regierenden Direktorin, weil sie nach drei Jahren noch immer keine greifbaren Ergebnisse vorweisen konnte. Anna Castberg, deren Aussehen alle, die mit ihr zu tun hatten, an Meryl Streep erinnerte, holte sich noch schnell zwei, drei Munch-Bilder aus dem nationalen Kunstdepot und verschwand spurlos. Der Ankaufsetat des Museums auch. Ihre Biographie hielt der Überprüfung nicht stand und löste sich in allen Details in Luft auf.

Ohrt entdeckt in der Geschichte der Museumsdirektorin Parallen zu anderen öffentlichen Figuren, die nach ihrer Ermächtigung auf die Bedingungen ihrer Vollmachten nicht mehr reagieren. Und er spannt in seinem Text einen Bogen von der Politik des bundesrepublikanischen Kohl-Systems und Alfred Jarrys „König Ubu“ bis zu den konturlosen, ins Ungefähre strahlenden Politikern von heute und zu jenen deutschen Schauspielern, die vorwiegend Vertreter der Staatsgewalt spielen und bei Filmpremieren erzählen, wie sehr sie doch die Rolle aus ihrem eigenen Erfahrungsschatz gestalten konnten, um am Ende die modernen Hochstapler als „mehr oder weniger Marionetten des Status quo“ einzuordnen.

Ton 4
Ich war ja auch mal Arzt und da konnt‘ ich über alles mitreden. Und ich hab aber überhaupt keine Ahnung von Medizin, aber ich hab mal ein medizinisches Buch gelesen, ein medizinisches Fachbuch.
Torsten S., Hochstapler

Autor
In einer Fotogalerie der ersten „Hochstapler“-Ausgabe von „Kultur & Gespenster“ montiert der Künstler Manuel Zonouzi Standfotos aus seinem Video „Elvis Beuys“: Elvis Presley und Joseph Beuys in ähnlichen Mienen, Haltungen und Show-Posen parallell nebeneinander gesetzt: Elvis mit Teddybär, Beuys mit totem Hasen / Elvis als US-Soldat, Beuys in Wehrmachtsuniform / Elvis spielt Gitarre, Beuys formt eine Fettecke und so weiter. Zwei, die Kontrolle über ihre Identität auszuüben schienen und dabei einander verblüffend glichen.

Ton 5
Und das ist wichtig, wenn Sie betrügen wollen: Sie müssen die Geschichten einfach erzählen, nicht verkomplizieren. Die Geschichte muß einfach und logisch sein. Oder extrem unlogisch.
Marc Z., Hochstapler

Autor
Frank Apunkt Schneider von der österreichischen Künstlergruppe „monochrom“ erzählt, wie er und seine Mitstreiter den fiktionalen Künstler und Schriftsteller Georg Paul Thomann kreierten, der als nicht-existierender Kulturschaffender in den Strukturen des Kunstmarktes beachtliche Bekanntheit erlangte und 2002 die Republik Österreich auf der Sao Paulo-Kunstbiennale in Brasilien vertreten durfte.

In einem Essay wird der größte Profiteur der gegenwärtigen Finanzkrise, der amerikanische Investmentbanker Bernie Madoff, der 65 Milliarden Dollar vernichtete, mit Alkibiades, einem Geliebten des Philosophen Sokrates in Beziehung gebracht, der sich ebenso wichtigtuerisch wie unnahbar in Szene setzte, goldene Sandalen trug und große Auftritte liebte, bis man ihn zum Oberbefehlshaber der griechischen Flotte ernannte – was deren Untergang zur Folge hatte. Der Autor dieses Textes kommt nach solchen und anderen Abschweifungen in die Geschichte des Persönlichkeitsplagiats zum finalen Verdacht: „Ist das Hochstapeln wohl – gehen wir zu weit? – ein Negieren der Sterblichkeit?“

Und zwischen solchen ausufernden und blitzgescheiten Essays aus dem Hier und Jetzt finden auch verblichene Autoren ihren Platz im Heft: Der Dadaist Walter Serner und sein „Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen“ zum Beispiel. Oder der österreichischen Erzähler und Publizist Karl Emil Franzos mit einem 1897 veröffentlichten Bericht über Peter von Boor, einem vermögenden Kaufmann und Kunstmäzen, der als geschätzter Freund Kaiser Franz Josefs und als hochangesehener, dem Gemeinwohl verpflichteter Bürger das österreichische Sparkassenwesen begründete und am Ende seines Lebens – im Alter von 71 Jahren – als lebenslanger Banknotenfälscher demaskiert wurde, dessen Tun erst auffiel, als er fast erblindet weiter fälschte und die Qualität seiner Blüten nachließ.

Jörg Schröder, der Gründer des März-Verlages und unverwüstliche Erzähler selbsterlebter Räuberpistolen, steuert der monumentalen „Hochstapler“-Doppelausgabe eine launige Geschichte aus der bundesrepublikanischen Unterwelt der 1970er Jahre bei: „Die Doktormacher“. Er schildert die fantastische Karriere zweier Knastrologen und ihren schwunghaften Handel mit falschen akademischen Titeln, deren Urkunden tatsächlich auf den Maschinen der Gefängnisdruckerei in Butzbach verfertigt wurden.

Ton 6
Jeder hätte das überprüfen, jeder hätte das in Erfahrung bringen können: […] Es ist Kasperletheater, schlichtweg Kasperletheater. Aber das haben die Kunden nicht getan.
Jürgen H., Hochstapler

Autor
Die Texte in „Kultur & Gespenster“ sind festen redaktionellen Rubriken mit kryptopoetischen Titeln zugeordnet: „Die Lust und die Notwendigkeit“, „Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels“ oder „Die sinnliche Gewißheit“. Sie stammen – aus ihrem Zusammenhang gerissen – aus Hegels „Phänomenologie des Geistes“.

Aus solchem Assoziationsmaterial läßt sich ablesen, daß die Zeitschrift von einem offenen Kultur- und Wissenschaftsbegriff lebt: Hochkultur und Trash genießen dieselbe Wertschätzung, theoretische Schwere darf in aller Fußnotenfestigkeit leicht daherkommen, akademischer Nuanciertheit ist Poesie gestattet. Und so läßt sich über die beiden wuchtigen „Hochstapler“-Themenausgaben sagen, was schon für die vorausgegangenen Hefte dieses unterhaltsamen Dickbrettbohrer-Organs galt: Sie sind ab- und vielseitig gehaltvoll, gründlich und streng, ausufernd und leidenschaftlich, klug und witzig, unterhaltsam und geistreich; und nicht zuletzt visuell modern, im besten Sinne graphisch unaufgeregt, abwechslungsreich, anmutig und ansprechend gestaltet. Die Texte sind allesamt sehr gut geschrieben, die meisten sogar saugut und in ihren frei flottierende Argumentationslinien immer wieder überraschend und dabei gleichermaßen triftig wie frappant.

Ton 7
Auf der anderen Seite macht es mir natürlich Angst, weil es zeigt, daß mein Umfeld, die Welt, in der ich bin, eine Welt ist, die auf keinem realistischen Boden mehr steht.
Jürgen H., Hochstapler

Autor
Die ungelernten Hochstapler von einst seien heute die flächendeckend agierenden Fachhochstapler, die in biederer Seriosität ihren Geschäften nachgehen, schreibt einer der Kulturgespenster-Autoren, Hochstapelei sei mittlerweile „krudes Expertentum und eben nicht mehr das große Theater.“

Der steigende Grad von Virtualität und Fiktionalität, der das System der Bewertungen, die Übereinkünfte über die Bedeutung von Vertrauen und Mißtrauen verändert hat, zwingt uns, die eigene Identität und Persönlichkeit ständig in Frage zu stellen und geschmeidig den neuen Gegebenheit anzupassen. „Damit“, notiert der Autor, „wurden die Fähigkeiten des Hochstaplers gleichsam aus der Illegitimität überführt in die Anforderungsprofile für das moderne Management, der Wunsch, ein anderer zu sein, ist übergegangen in die Aufforderung, immer anders zu sein.“

Wie gesagt: Wir sind uns schon lange nicht mehr sicher. Ständig fragen wir

Ton 1 (Reprise)
(Diverse Stimmen:) Echt? / Wirklich? / Jetzt echt? / Tatsächlich? / Ne? Echt? / Wirklich wahr? / Echt? / Jetzt wirklich, oder? / Echt? / Echt?

(Die Originaltöne 2 – 7 stammen aus dem Presskit des 2006 vom Bayrischen Rundfunk produzierten Fernsehdokumentarfilms “Die Hochstapler“ von Alexander Adolph. Die Musikfragmente sind aus John Williams Filmmusik von Steven Spielbergs “Catch me if you can“)

[Krimi]
» Kontext: Hochstapler
am Samstag, 14. November 2009
Scharfer Blick auf aktuelle Konfliktlagen

Viele schöne, seltsame und kuriose Gewerbe gehen zunehmend verloren. Scheckbetrüger, Heiratsschwindler, Hoteldieb und Hochstapler. Oder haben sich die Berufsbilder nur gewandelt, hat die Gesellschaft lediglich neue Termini gefunden? Die beiden Hochstapler-Hefte des stets lobenswerten Magazins Kultur & Gespenster gehen diesen Fragen nach. Friedemann Sprenger auch …

Die zentrale europäische Figur zum Thema ist natürlich Walter Serner, dessen Verlag seine Werke – die man dringend wieder, wieder und wieder lesen soll – damit bewarben, sie seien „verfaßt von dem kontinental berüchtigten internationalen Hochstapler Dr. Walter Serner“. Serners Beiträge zur Geburt des Kriminalromans aus dem Geiste des Dadaismus und Surrealismus sind kaum zu unterschätzen. Enno Stahls kompaktes und kluges Porträt mit dem schönen Titel: „Die Welt will betrogen sein, gewiss. Sie wird sogar ernstlich böse, wenn du es nicht tust. WALTER SERNER – Presse Blague, Hochstapelei und der Nihilismus des l’ennui“ spart Berge von Besinnungsaufsätzen zum Thema, und setzt Serner genau in die Kontexte, die heute noch so aktuell sind wie 1910: Serner hat immer wieder die „umfassende Sinnlosigkeit aller humanoiden Betätigungen herausgestrichen“ und ist damit zu den ersten Ansätzen einer „außermoralischen Ethik“ gelangt, die in letzter Konsequenz dazu führt, dass man sich „die Zeit in der Leere angenehm (…) vertreiben“ sollte. Sehr menschlich, sehr subversiv, sehr brauchbar, wenn man sich die Geschichte der Kriminalliteratur und ihre Sinnerzwingungsmaschinchen mal andersrum anschauen möchte.

Von Dada zu Alfred Jarry und Père Ubu ist es logischerweise nicht sehr weit und insofern ist es auch systematischerweise nur folgerichtig, dass Robert Ohrt ein paar Fallstudien zu aktuellen Hochstaplern (mit Schwerpunkt auf einer Dame, die die dänische Kunstszene jahrelang geblufft, düpiert und vermutlich sehr hübsch ausgeplündert hat) „Herr Ubu mit blonden Zähnen“ übertitelt. Ohrt zieht natürlich konsequent die Linie von den marginalisierten Hochstaplern in den Schönen Künsten (von Arthur Cravan bis – überraschenderweise – Francis Picabia) hin zu den „etablierten Hochstaplern“ – den Politikern, den Experten, den Houdinies der Finanzwelt.

Auch dieser feine Aufsatz hat im Konzept der beiden Hefte seine logische Fortsetzung, die evidentermaßen zu Bernie Madoff (siehe auch SiK vom 04.7.09) führt und den 65 Billionen (!!!!) Dollars, die dieser absolut erfolgreichste Geldvernichter aller Zeiten in den Sand gesetzt hat. Das ist groß – wie und warum es funktioniert, hat Harald Nicolas Stazol mit ein paar interessanten Seitenblicken auf Tom Ripley unter dem Titel „IMPOSTORS REVISITED – oder warum Hochstapler hochstapeln“ rekonstruiert.

Um jetzt nicht in die Gefahr zu geraten, die beiden Hefte von hinten bis vorne zu referieren und auch noch die sehr gelungenen Bildstrecken zu loben (warum ist so oft Joseph Beuys in verschiedenen Zusammenhängen zu sehen?), noch zwei Hinweise:

Erstens auf eine schöne Hommage von Michael Glasmeier an den Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend: „Erkenntnis und Bilder. Paul Feyerabend“, wobei natürlich die Aufnahme Feyerabends in den Kontext der Hochstapelei ein sehr ironischer Reflex auf die Reaktionen des offiziellen Wissenschaftsbetriebs ist, der, als 1975 „Wider den Methodenzwang“ erschien, einen ziemlich heftigen Geifer-Ausstoß hatte.

Zweitens auf den Artikel von Daniel Künzler: „COUPÉ DÉCALÉ: Ostentativer Konsum im Dunstkreis von Betrug und Bürgerkrieg.“ Coupé Décalé ist ein spezifischer Mix aus Rap, kongolesischem Rumba, ivorischem Zouglou und anderen Einschüssen, der sich in Paris in afrikanischen Discos und Klubs formiert hat.

Konstitutiv für Coupé Décalé ist aber der lifestyle, die Statussymbole – teure Uhren, Kaviar, Zigarren etc. –, deren Herkunft so ostentativ unklar sein muss wie ihre ostentative Pratz-Funktion. Die Ursprünge liegen in den killing fields Westafrikas, in der Côte d’Ivoire, in Liberia und anderen Gegenden, wo traditionelle Eliten von Warlords abgelöst worden sind und wo sich Kleptokratie sozusagen als Medium des sozialen Aufstiegs jenseits althergebrachter Familien-Strukturen den Weg frei geschossen hat. Die ambianceurs, wie die Aficionados und Heroen des Coupé Décalé heißen, sind die notfalls waffenstarrenden Hochstapler und Parvenus, die von „herkömmlichen Formen der sozialen Mobilität ausgeschlossen sind“ und ihre neuen Wege zum sozialen Erfolg in eine Musikkultur überführt haben, die man als Popmusik der „Kriegsgewinnler“ bezeichnen könnte.

Fazit: Die beiden Hochstapler-Hefte pflegen den scharfen Blick auf die wirklich interessanten Konfliktlagen unserer Tage. Wie gute Kriminalliteratur.

Friedemann Sprenger

Robert Ohrt et al: Hochstapler I/II (= Kultur & Gespenster 8 und 9). Hamburg: Textem Verlag 2009. 231 und 247 Seiten. jeweils 12,00 Euro