Der Pergamon Orgasmus

Berlin, Hotel Adlon

Da steht man und ist wie verabredet und freut sich die Freunde zu sehen. Es ist kalt über der Spree, doch da wuchtet es sich immernoch empor, das Bauwerk, das schon vor zwanzig Jahren dem Knaben sehr viel Eindruck machte und wo er den Dornauszieher erstmals sah. Doch rasch jetzt, hinein! An den spanischen Schlangen vorbei – man bemerkt, dass die Haartönungen der holden Madrilenen doch einiges zu wünschen übrig lassen. Und dann, man ahnt ihn durch die Mitteltür, doch erspäht nichts, das Artefakt ist schlicht zu gross. Stille. Man hört die Andacht. Man begegnet sich von links, seltsam übereinstimmend mit der Tatsache, dass die Bewohner Pergamons aller Wahrscheinlickeit nach genau dort den Hügel erklommen, um den Göttern zu huldigen. In strahlendem, marmornen Weiss, nun, man kann sagen, schwebt er. Die Friese der Helden heben ihn auf ihre Schultern im Kampfe, die Titanen sinds gegen die Götter, und man ahnt an den umlaufenden Wänden, an den dort hängenden Statuenhaft herausgemeisselten Szenen, wie gross der Altar tatsächlich gewesen sein muss, den recht eigentlich steht hier nur die Vorderfront, aber die ist schon gewaltig. Gewaltig im Schweben, denn es ranken sich Säulen empor, genaugenommen ranken sie nicht, sondern sind von elegantester Schlankheit, angeordnet rund um den eigentlichen Altarraum – wobei bemerkt werden muss, dass der Pergamonaltar die Form der alten attischen Altäre hat, nur eben in unendlicher Dimension. Was da Raum wird und Wirkung entfaltet, ist schlicht eine gewisse Heiligkeit, man darf, man muss es sagen. Meine beiden Begleiter schweigen andächtig, beide sind Künstler, beide schier erschlagen von dieser ästhetischen Wucht. Man setzt sich auf die hohen Stufen vor´s Bauwerk, den Stufen, die so steil hinaufführen, dass man am Treppenabsatz eindringlich davor warnt, der Austieg sei auf eigene Gefahr. Man stellt mit einigem Erstaunen fest, dass der gesamte Museumsbau schlicht um den Altar errichtet wurde, das gleiche nach vorn ausgerichtete Hufeisen ist da kopiert, und man begreift, das dieser graue Steinschrein nur über das Heiligtum gestülpt ist, und man wird gewahr, dass hier eine gigantische Schmuckschatulle für ein Kleinod erbaut wurde, vielleicht von Titanen. Man stelle sich die preussischen Nickelbrillen vor, die den Altar vor einem Jahrhundert fanden, akkurat ausgruben um ihn dann – zu stehlen. Offenbar ohne schlechtes Gewissen. Man erinnert sich an die Elgin Marbles des British Museum, die Figuren des Pantheons, ein uralter Historikerstreit. Hätte man sie nicht entführt, sie wären verloren gewesen. Bei einer Schlacht um Athen explodierte das Pulverlager der Türken im Erechteion. Bis dahin hatte die Tempelanlage weithin unbeschadet Wirren, Kriege und Jahrhunderte überdauert. Es ist an der Zeit nun, den Wikipediaeintrag zu zitieren:

„Der Pergamonaltar ist ein monumentaler Altar, dessen Bau unter König Eumenes II. in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. auf dem Burgberg der kleinasiatischen Stadt Pergamon errichtet wurde.
Der Altar war 35,64 Meter breit und 33,40 Meter tief, allein die Freitreppe hatte eine Breite von fast 20 Metern. Den Sockel schmückte ein Hochrelief, das den Kampf der Giganten gegen die griechischen Götter darstellte. Ein zweiter Fries an den Hofwänden des Pergamon-Altars erzählt in einem Zyklus aufeinanderfolgender Reliefbilder die Legende von Telephos. Telephos, ein Sohn des Helden Herakles und der tegeatischen Königstochter Auge, galt als mythischer Gründer jener Stadt.
1878 begann der deutsche Ingenieur Carl Humann auf dem Burgberg von Pergamon mit offiziellen Ausgrabungen, die 1886 ihren vorläufigen Abschluss fanden. Das Hauptziel der Ausgrabungen war es, die Altarfriese wiederzugewinnen und das Fundament des Altars freizulegen. Später wurden weitere Baukomplexe der pergamenischen Akropolis freigelegt. In Verhandlungen mit der beteiligten türkischen Regierung konnte vereinbart werden, dass alle damals gefundenen Fragmente der Altarfriese den Berliner Museen zugesprochen wurden.
In Berlin setzten italienische Restauratoren die Platten der Friese aus tausenden Fragmenten wieder zusammen. Um die Friese zusammenhängend ausstellen zu können, wurde auf der Museumsinsel eigens ein Museum errichtet. Der erste Bau von 1901 wurde 1909 zugunsten eines größeren Neubaus abgerissen, der 1930 vollendet wurde. Nach den dort ausgestellten Friesen und einer Rekonstruktion der Westfront des Pergamonaltars hat auch dieser Museumsneubau von den Berlinern den Namen Pergamonmuseum erhalten. Der Pergamonaltar ist heute das bekannteste Ausstellungsstück der Antikensammlung auf der Museumsinsel.“

Und dann, ganz weit versteckt, hinter den Säalen und auch vor den Spaniern sicher, man muss unendliche Flure passieren (Speer tat ähnliches mit der Vorhalle in der Reichskanzlei), sitzt er dann, der entschwunden Geglaubte, als warte er in völliger Ruhe auf dich, der treuste Freund in zwanzig Jahren, seit zwei Dekaden, sitzt also und zieht sich in ewiger Bewegung festgehalten in einem Augenblick, den Dorn aus der Fuss-sohle. Und man entschwindet.

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