Make Up

Die Wahrheit, mal ungeschminkt

Was sind die materiellen Waffen einer Frau? Das Beauty-Arsenal des schönen Geschlechtes kennt offenbar keine Grenzen: Lippenstift, Rouge, Puder, Mascara,Teintfonds, Eyeliner, Gesichtswässerchen – das sind die materiellen Waffen einer Frau. Was Männer nicht selten ganz schön schnell in die Verzweiflung treibt: Die herrschenden Regeln der Schminkkunst sind in feine, kleine, genau zu beachtende Paradoxa geteilt, Theorien, wie sie allenfalls noch in der Quantenphysik zu finden sind. Und, irgendwie, wie alles Unheimliche, wie alle Metamorphosen zum Schönen hin, von den Männern doch ein wenig Bewunderung verdienen. Denn nichts anderes ist der Kult des Make Ups, als die hohe Kunst der Verwandlung.

Beginnen wir beim Lippenstift, vorzugsweise nachgezogen und von Lipgloss strahlend überwölbt wie eine französische Kathedrale von ihrer lichtdurchfluteten Kuppel. Man sollte annehmen, die Damenwelt trägt ihn auf, um nachhaltig und romantisch geküsst zu werden. Und was passiert? Kurz vor dem alles entscheidenden Zuneigungsbeweis wendet sich die Angebetete ab und bietet nur noch die Wangen dar. Alles nur, um das farbige Wunderwerk ihres hypergestylten Mundes vor Zerstörung zu schützen. Wer blickt da denn noch durch? Der Revlon-Konzern vielleicht, der nicht umsonst in einem palastartigen, knallroten Wolkenkratzer an New Yorks Madison Avenue residiert, dank gigantischer Einnahmen. Estée-Lauder, Clinique, Lancaster, Lancôme womöglich. Aber die haben ja auch Forschungslabore, bevölkert von hunderten Wissenschaftlern – dagegen kommt ein einzelner Mann mit einem einzigen Verstand einfach nicht an. Aber die weibliche Psyche. Mit Leichtigkeit.

Dabei gibt es allerdings phänomenale Unterschiede: Kontinentale Make-Up-Massen stehen gegen regionales Make-Up in Maßen. Und es ist schon interessant, dass ehemalige Klassenfeinde wie die Ladies der USA und die Frauen der ehemaligen Sowjetunion offenbar ähnliche Ansichten über die Menge an Farbe und Teint pro Antlitz teilen – auch lässt sich daraus relativ einfach das proportionale Verhältnis von Gesichts-Stukkatur zum Alter der Verwenderin ermitteln. Dies aber gehört zum männlichen Know-How über Grundlagen und Wesen der Coloraturen, verführerisch angewendet von der modernen weiblichen Weltbevölkerung. Wer es ignoriert, ist gewissermassen von Vornherein auf verlorenem Posten. Auch der Nord-Süd-Konflikt in Deutschland verdient Beachtung: Was in München en vogue ist, gilt in Hamburg als übertrieben – was wiederum dem germanischen Einzelkämpfer des Ungeschminkt-Maskulinen relativ einfach die geographische Zuordnung eines Exemplars der Geschminkt-Femininen erlaubt.

Die exemplarische Wahrheit ist: Make-Up und Männer passen einfach nicht zusammen. Das fängt schon beim Styling der Schminkwerkzeuge an. Für die weibliche Anmut setzt die holde Weiblichkeit futuristisch anmutende Gegenstände ein, Dinge, die für uns, die Männer, oft genug etwas Unheimliches haben. Haben Sie kürzlich mal einen modernen Lippenstift gesehen, einen von Chanel womöglich? Abgesehen vom überaus einkommensschwächenden Preis sieht er aus, als könne man damit eine Atomrakete starten. Mikrofilme transportieren. Oder Uran 238. Auch kritisch: Die bunten Puderkugeln von Guerlain, so farbenfroh, dass man sie nach durchzechter Nacht schon mal irrtümlich für Bonbons halten könnte…

Der Lippenstift ist die weibliche Wunderwaffe schlechthin. Das zweite Paradox der Kosmetik: Die Drehstifte sind der natürliche Feind des Oberhemdes. Wer zählt die Beziehungen, in denen die falschen Farbe, sagen wir, Rouge Hydrabase Waikiki oder Electric, als direkter Indizienbeweis für arge Verwicklungen sorgt? Und das klingt dann so: „Was hast du denn da am Hemd? Ist das nicht der Lieblingsfarbton deiner Sekretärin? Was macht der auf deinem Kragen?“ In so einem Ernstfall heisst es bei vollem Risiko lügen. Was das Zeug hält. Ein verzweifelter Rettungsversuch muss jetzt sofort unternommen werden, um den Super-GAU zu verhindern: „Ach Liebling, wir hatten heute einen so tollen Vertragsabschluss, dass wir im Büro spontan ein wenig feierten. Nur ein klein wenig, und dabei hat sie mir einen Kuss gegeben, auf die Wange, wegen des grossen Erfolges, des unerwarteten, du siehst, es ist alles ganz harmlos…“ Und was dann folgt, ist, gelinde gesagt, eine Katastrophe. Lippenstift, zumal zur falschen Zeit am falschen Ort, ist so ziemlich das risikovollste Erzeugnis der weltweiten Schönheitsindustrie. Ehen können daran scheitern, Beziehungen zu Bruch gehen, Affairen sich in Nichts auflösen. Schneller, als man einen solchen Stift entsichern, ach nein, aufdrehen kann.

Eine kurze Situationsanalyse: Wie lange braucht eine durchschnittliche Frau – falls es soetwas gibt – für ihre schmetterlingshafte Verwandlung im Badezimmer? Eine Stunde vor dem Spiegel? Zwei? Der Herzog von Windsor, einer der berühmtesten Gentlemen seiner Zeit, litt besonders unter solch weiblicher Zeitverschiebung. Er ist vielleicht der berühmteste Prototyp des von Make-Up genervten Mannes. Immerhin war der Herzog als Edward der VIII. der ehemalige König von England. Er hatte für seine Wallis dem Thron entsagt und war also eigentlich ziemlich hart im Nehmen. Um nun im Entrée seiner Villa in Neuilly, Paris, jeden Abend auf die Herzogin zu warten. Und zu warten. Und zu warten. Oft Stunden. Auf ihr Erscheinen. Zugegeben, sie galt als eine der elegantesten Damen der Welt. Und machte sich halt eben noch mal stadtfein. Oder operntauglich. Trug ihre Shoppingmaske auf, porzellangleich. Wollte noch mal kurz zu Cartier. Und der Herzog sass da. Und weinte leise. Stundenlang.

Zum Heulen ist es ja irgendwie auch, das dritte Paradox: Wie lange benötigt denn der durchschnittliche Lebensgefährte, bis er endlich ins Bad darf? Derselbe Mann, für den sie (im besten Falle) ja all die Anstrengungen ihr Gesicht betreffend unternimmt? Wer beschreibt die Ungeduld, die ein Mann jeden Tag durchleiden muss? Um schliesslich, natürlich nach ihr, unter all den Tiegelchen, den Töpfchen, den fremd und bedrohlich aussehenden Aussehensverstärkern, sein Rasierzeug zu suchen? Denn unter Garantie sind die so wichtigen Utensilien männlicher Körperpflege, die vergleichsweise wenigen, die es ohnehin nur gibt, weggeräumt, beiseite geschoben, umplaziert oder sogar völlig verschwunden. Auseinandergenommen. Mutwillig versteckt. Sind schlimmstenfalls des-in-te-griert. Um Platz zu schaffen. Für ihre geheimen Schönheitsmittelchen. Hat das nicht jeder Mann schicksalsergeben schon einmal erlebt? Eben! Und was kann Mann dagegen tun? Seien wir mal ehrlich: Virile Gegenmassnahmen – die können wir uns abschminken.
HARALD STAZOL