Zur Frage der Gegenwart
Ich bin der letzte Vertreter einer aussterbenden Art: Ich bin ein Dandy. Ich bin es immer schon gewesen. Es ist nicht mehr zeitgemäss, ein Dandy zu sein – wie das Verschwinden des Tyrannosaurus Rex oder das der großen Blauwale ist es ein von der Gegenwart bestimmtes Faktum, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt. Ich fühle mich wie Achill, der trotz seines Leichtfusses die gegen ihn antretende Schildkröte nie überholen wird, mit mathematischer Gewissheit. Man könnte auch gegen eine Stoppuhr anlaufen, die immer schneller geht, während man selbst langsam die Kräfte verzehrt, in dem sinnlosen Versuch, rechtzeitig hinter eine Ziellinie zu gelangen, um einen Pokal der Nutzlosigkeit entgegenzunehmen. Ich habe mich schon lange aufs Spazieren verlegt. Es macht keinen Sinn, im Turbokapitalismus Dingen und Menschen hinterher zu laufen, die dieses Ziel, ein imaginäres zudem, niemals erreichen werden. Es ist nicht im Wesen der Gegenwart, dass man noch Ziele erreichen kann, wenngleich dies natürlich das große Geheimnis, die allumfassende Lüge ist, die die Menschen in ihren Laufrädern hält, die Perpetuum-Mobile-haft immer nur noch größere Anstrengungen erfordert. Sie laufen, und die erforderliche Laufgeschwindigkeit nimmt ständig zu. E.M. Forster schrieb eine Erzählung, in der alle um eine Hecke laufen, endlos, immer schneller, immer gegeneinander. Als der Held nicht mehr kann, schlüpft er unbeobachtet durch die hohe Hecke und trifft dort die wenigen Erwählten, die den Mut hatten, aus dem Rennen auszusteigen, und siehe! sie haben ihr Glück gefunden.
Natürlich gibt es einige Wege, aus dem Rennen auszusteigen und wenige sind ruhmvoll. Die Opfer der Gesellschaft, die Armen und Obdachlosen, die Bettler und Verweigerer sind die Verlierer des imaginären Rennens – oh nein, so einer bin ich nicht. Sie alle werden von ihren Mitläufern als Opfer angesehen, als Menschen, die mit dem herrschenden Tempo eben einfach nicht mehr mithalten können. Das Paradox daran ist, dass all die Spurter letztlich ebenfalls zum Ziel haben, dem Rennen endlich zu entkommen, sei es durch Reichtum, das ewige Glück im Müssiggang, der ja endlich möglich sein wird am Ende, wenn die Zielfahne in Sicht kommt. Sie sind auch nicht überrascht, dass das Fähnlein nie aufscheint und sie einfach nicht dort ankommen, weswegen sie doch so überstürzt aufgebrochen sind, sie rennen, bis ihre Lungen brennen und sie schliesslich zusammenbrechen, und bekommen dann einfach auch den Stempel aufgedrückt, eben nicht gut genug gewesen zu sein. So erhält das System sich selbst: Das Heer der Arbeits- und Besitzlosen ist der Beweis.
Man muss sich die Zeit nehmen, in jedem Sinne des Wortes. Man muss die Zeiger anfassen und mit aller Kraft zurückhalten, derer man fähig ist, man muss Sand in das Getriebe jagen und bereit sein, es zu sprengen, wenn nötig. Man muss sich der Einsamkeit stellen, die es bedeutet, seiner eigenen Uhr zu folgen und man bleibt ewig jung: Tatsächlich altert man weniger, es hat ein wenig von der Relativitätstheorie, indem man sich sein eigenes Zeitgefühl schafft, ein paralleles Universum. Und man muss sehr viel Energie darauf verwenden, dieses Mehr an Zeit sinnvoll einzusetzen – dies ist das Wesen des Dandys. Er erhebt sich über die Zeit. Wie der Besucher eines Pferderennens sieht man den Vollblütern, die zur Übersicht mit Nummern versehen sind, von aussen zu, freut sich an ihrer Geschwindigkeit, wettet auf ihren Einlauf, ein Glas Champagner in der Hand und leichte Worte zu sich murmelnd, die ein geneigtes Ohr womöglich sogar hört. Aber die Ränge und Logen sind verlassen, und man wird sich gewahr, dass man der alleinige Zuschauer ist, der immer vor dem Moment des Eintauchens in die Zeit der anderen, für Sekunden nur, sich vornimmt, nicht mitgerissen zu werden. Dies ist der Moment des Kontakts mit dem Realen, und ungleich den Verlierern beim Rennen wählt der Dandy diesen Moment selbst, er hat die Macht, ihn zu beeinflussen, ohne seine eigene Zeit zu verlassen – ein risikovolles Unterfangen, ganz ohne Zweifel.
Man mag darin Zeichen des Müssiggangs erkennen, es ist ein unbezahlbarer Luxus, sich selbst die Zeit zu nehmen: Michael Ende sprach von den grauen Männern, die von der Zeit der anderen leben, indem sie sie anderen stehlen. Ein Dandy stiehlt nicht, er geniesst. Das ist etwas anderes.
Irgendwann stellt sich ganz automatisch der Effekt ein, dass man den anderen immer ein Stück voraus ist. Wie im Märchen vom Hasen und dem Igel ist man immer schon da. Der Dandy ist immer schon da. Das ist seine Kunst.
Es hat etwas unendliches Elegantes, sich nicht abzuhetzen. A gentleman never runs. Man kann gar nicht zu spät kommen. Es ist einfach nie zu spät. Es sei denn, man ist der letzte, der sich dieser hochfeinen Technik zu bedienen weiss. Und deswegen stirbt der Dandy langsam aus. Niemand beherrscht mehr die Kunstfertigkeit, dem Rasen etwas abzugewinnen, indem man sich selbst in eine Position des Abwartens begibt. Der Dandy wartet immer. Auf den nächsten Kaffee, auf den Beginn der Vorstellung, auf das Ende eines Romans, auf den Tod einer Liebe. Sein Wesen hat etwas Abwartendendes und am Schluss ist er immer der Gewinner. Das macht ihn der Gegenwart überlegen. Der Dandy ist ein Siegertyp. Und er ist ein Feind der Gesellschaft.
Er ist unabhängig. Er hat sich losgelöst. Er liebt das Verfeinerte, weil er die Blumen am Wegesrand liebt, die andere ansonsten zertrampeln. Ein Dandy ist leise. Er erhebt seine Stimme nie, weil er ohnehin nur dann gehört wird, wenn er spottet. Ein Dandy spottet immer. Es bleibt ihm nichts anderes übrig – sein Witz ist die Waffe gegen die Abhängigkeiten der anderen. Er gleicht darin dem Narren, der ungestraft die Wahrheit spricht. Nur das der prunkvolle Hof, der sonst sein Lebensgebiet war, inzwischen von Beton und Schnellstrassen überwölbt ist, von unmenschlicher Architektur, von Glastüren und den Unwelten des Plastiks. Von Steuerformularen, Unfallopfern und Silikonbrüsten. Vielleicht liegt die Tragik darin, dass er immer amüsant ist, weil die Zeitläufte nur in Humor zu ertragen sind, aus jenem Augenwinkel, der ein wenig schräg zur Blickrichtung der ihn umgebenden schaut. Dandys sind nie kurzsichtig.
Dandys sehen alles. Die leicht heruntergezogenen Mundwinkel der Frau am Bahnsteig, die nichts neues mehr erwartet. Die Hölle des Ehegatten, der zurück zu seiner Frau muss und sich aus den Armen der Geliebten nur mühsam losreisst. Den Ruhm des Tagesschausprechers, der von Glück sagen kann, von den von ihm angekündigten Nachrichten nie betroffen zu sein. Er sieht die Lüge im Auge des Politikers, er hört die Worte des Schmeichlers um die Gunst der Wähler. Er hat etwas von einem Geheimagenten, der einer fremden Macht dient: Der seiner selbst. Dandys sind mächtig.
Und doch bleiben sie der Welt fremd. Sie begreifen den Wert des Geldes nicht, das macht sie verwundbar. Und weil der Glaube an Geld heute alles mit seinem dunstigen Grau überzieht um die Welt noch grauenvoller zu machen, ist sein Tod vorprogrammiert. Nicht heute. Nicht morgen. Aber irgendwann wird es zu spät sein. Jedenfalls in der westlichen Welt.
Seine Welt ist die des Bildungsbürgertums: Man muss gebildet sein, um ihn zu verstehen. Aber da die Kultur und ihre Schaffenden immer auf dem Rückzug sind und ebenfalls von ihrer Extinktion bedroht sind, wird der Dandy ohne Zuhörer bleiben, irgendwann. Der Zeitpunkt rückt näher, aber er ist noch nicht vollends erreicht. Andernfalls gäbe es diese Zeilen nicht.
Dandys sind immer Ästheten. „If you see a fair form chase it, and if possible embrace it“ hat W.H.Auden einmal gedichtet. Es ist das Motto des Dandys, er lebt von den schönen Momenten, er hangelt sich entlang am Aufscheinen der Schönheit, am Aufbäumen des immer Bedrohten, am Gang eines jungen Mädchens, am Lächeln einer Dame, am Lachen eines Jünglings. Er weidet sich daran, weil es rare Moment des Aufatmens sind, des Belegs dafür, dass der Kampf nicht umsonst ist um das Wunderbare, das immer Gültige, das Ewige. Dies ist der Grund seiner Eleganz.
Man sieht es als Pflicht an, der Welt so elegant entgegenzutreten, wie man es von ihr eigentlich erwartet. Schild und Rüstung des Dandys ist sein Habit, die Blume im Knopfloch, der Anzug, die Krawattensammlung, die erlesenen Duftwässer, die goldene Uhr. Man verweist die Uneleganz in ihre Schranken, versucht Vorbild in diesen Dingen zu sein, wie es zuletzt zur Blütezeit des Dandys im viktorianischen Zeitalter war. Der Unterschied zur gegenwärtigen Erlebniswelt, wenn denn darin noch genuine Erlebnisse möglich sind (man verwechselt dies zur Zeit immer mehr mit Konsum, dem Vernichten des Dinglichen), bestand darin, dass der Dandy die Bestätigung der herrschenden Verhältnisse war, WEIL DA NOCH ETWAS ZU BESPIEGELN WAR. Die Gesellschaft sah sich selbst reflektiert.
Heute sieht die Gesellschaft ihr Spiegelbild in Vorabendserien und Werbespots. Sie braucht den Dandy nicht mehr, so scheint es. Und gross ist die Gefahr, als Dandy zur Karikatur dieser Medien und letztlich seiner selbst zu werden. Ein Dandy ist immer in Gefahr.
Und er liebt die Gefahr. Um sein Überleben zu gewährleisten, muss er immer listiger sein und mehr auf der Hut als die Gesellschaft, die ihn umgibt. Dies wird immer schwieriger. Darin liegt die Herausforderung des modernen Dandys. Und es ist keine geringe.
Zur Frage der Vergangenheit
Die Rückschau liegt im Wesen des Dandys. Er geht darin konform mit dem herrschenden Kulturpessimismus, dem Wissen darüber, dass alles schon besser war und es nur noch schlimmer kommen kann. Dass nur noch Katastrophen zu erwarten sind. Er hofft dagegen an, das unterscheidet ihn vom Pessimisten, er hofft dagegen an, obwohl es sein Verstand ihm fast verbietet, er hofft, eben kein ständiges Rückzugsgefecht zu führen, bergauf, um mit dem Rücken schliesslich zu Wand zu stehen, während Barbaren die Landschaft verwüsten und die Bevölkerung massakrieren.
Er kennt die Beispiele aus der Geschichte (Dandys sind immer Historiker), er weiss um die Notwendigkeit des Kampfes und die Verführung des schnellen Erfolgs. Er oszilliert zwischen Sichaufraffen und Flucht, auf der Schneide eines schmal-scharfen Grates, dem der ruhmvollen Vergangenheit und der anbrandenen Wirklichkeit. Dandys träumen gern. Sie verwandeln das Vergangene in eine Abfolge von schönen Erlebnissen dort, wo der Bürger nur die Sukkzession von Niederlagen und Verlusten sieht, solange es ihm eben gelingt. Er sieht das Parthenon vor seinem inneren Auge als prachtvollen Tempel, wo für Touristen nur noch Ruinen stehen, hört Cicero Auf dem Forum Romanum dort, wo die Kleinkrämer ihre Postkarten schreiend anpreisen.
Er empfindet dort, wo andere nur zählen. Er weiss manchmal nicht, ob er sich dem Neuen entgegenstellen muss, oder sich dem Rückwärtigen besser zuwendet – dies ist eine Folge seiner Zeitlosigkeit. Ihm ist alles ständiger Fluss, pantha rhei, und manchmal ist es schwierig, darin Fuss zu fassen. Das Vergangene ist ihm Begründung der Hoffnung, von der er lebt. Der Untergang des Abendlandes ist ihm ein fortwährendes Schauspiel, eine Komödie, die immer neue Momente der Lächerlichkeit für ihn bereithält, während alle anderen verzweifeln. Er unterscheidet sich vom ewigen Optimisten in seiner Unfähigkeit, seiner Hoffnung dauerhaft zu vertrauen. Zwar wird er immer wieder darauf zurückgeworfen, allein das Vertrauen in die wundervolle Zukunft geht ihm ab. Es liegt in seiner Disziplin, möglichst vieler Fetzen des positiv zu Erwartenden zu erlangen. Dies ist sein Tor zum Vergnügen.
Dandys lächeln immer. Sie vergleichen häufig Momente des Seins mit Anekdoten des Vergangenen, was sie darin bestätigt, dass die Dinge letztlich immer gleich bleiben. Sie wissen insgeheim, dass dies nicht immer so ist, aber sie gefallen sich im Auflachen darüber, dass sich alles immer ähnelt. Dandys lachen gern.
Dafür, dass es eigentlich immer etwas zu lachen gibt, sorgt, wie gesagt, die Umwelt. Ob es um den Ämterwahn oder den Formularkrieg geht, die Tatsache, dass man bei der Suizidambulanz anruft, „Ich möchte mich gern umbringen“ sagt und die „Kommen Sie dann am Donnerstag“ antworten (das geschah wirklich, zu weiteren Details später mehr…) oder einem von bösen Hausmeistern ohne Vorwarnung das Wasser abgestellt wird, wie heute soeben geschehen, wegen Reparaturarbeiten, die keiner braucht – man muss einfach darüber lachen. Telefongesellschaften mit höchst übertriebenen Forderungen gehören zum letztlich komischen genauso, wie die Künstlersozialkasse, die einem schriftlich mitteilt, dass man nach den neuen Bestimmungen de jure kein Künstler mehr ist… wenn das alles nicht so lustig wäre, könnte man schon daran verzweifeln. Ich glaube, diese Balance stetig zu halten, eine pergamentene Trennwand zwischen Triumph und Tragödie zu sein, ist vielleicht die vordringlichste Aufgabe eines wahren Dandys.
Vergangenheitsbewältigung gehört ebenfalls zu seinen Seinsgründen: Die der eigenen sowie die der stattgefundenen überhaupt. Es ist nicht gerade einfach, sich über sein Tun und Streben ständig Rechenschaft ablegen zu müssen, ob der täglichen Selbstkritik ist es ein anspruchsvolles Unterfangen, sich immer wieder im Spiegel zu verlieren, erhobenen Hauptes, im Bewusstsein, dann doch richtig gehandelt zu haben. Gestern fragte mich ein Freund, wie gross meine Liste sei der Dinge, die ich mir hätte sparen können. Ich glaube nicht, dass es so eine Liste geben kann, Man käme auf dauer damit nie zurecht. Man tut die Dinge eben immer auf eine gewisse Art, und in dem Moment, indem man sich zu etwas durchgerungen und entschieden hat, ist die Situationsentscheidung ja schon gefallen. Einmal getan, gibt es eben kein Zurück mehr. Es ist womöglich dieses Wissen um die Unausweichlichkeit seines Tuns, das den Dandy in die Nähe des christlichen Glaubens rückt, des katholischen mithin, – und tatsächlich sind ja in der viktorianischen Geschichte sehr viele Dandys zum echten, wahren Glauben konvertiert, wohl auch in der Hoffnung auf ein gewisses garantiertes Seelenheil, nicht zuletzt aber auch wegen des unbeschreiblich aufwendigen rituellen Zeremoniells, zu dem sich der Vatikan ja noch manchmal aufschwingt. Wieder ist es eine gloriose Vergangenheit der ungebrochen am längsten wirkenden Institution, die den besonderen Reiz ausmacht, ihr zu folgen.
In wirklich großen Momenten erscheint dem Dandy seine persönliche Geschichte wie eine stete Abfolge von Liebesaffären, die, erfüllt oder unerfüllt, seinem Dasein erst die wirkliche Bedeutung gegeben haben. Man erinnert sich an Spaziergänge in der Nacht, an Szenen auf Parkbänken, Feuerwerke des Glücks und auch durchweinte Stunden. Es liegt im Wesen des Dandys, sich leicht zu verlieben und nur schwer wieder davon loszukommen. Er hat immer verliebt zu sein, es erleichtert sein Leben und macht ihn seiner selbst sicher. Es ist die Verliebtheit ja eine Art Gewahrwerdung der Umwelt, des Menschen an sich, wie sie sich brillianter kaum denken lässt. Sie ist eine Bewegung und Projektion in Zukünftiges, erfüllt sich im Moment und zieht einen Kometenschweif am Himmel der Emotionen nach sich, der in der Erinnerung nicht verlischt.
Zur Frage der Liebe
Es ist eines der weitesten Felder, auf die sich der Erzähler wagt: „The heart of standing is, we cannot fly“ schreibt der englische Poet William Empson, und August von Platen legt nach:
„Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,
Ist dem Tode schon anheimgegeben,
Wird für keinen Dienst auf Erden taugen,
Und doch wird er vor dem Tode beben,
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen!
Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe,
Denn ein Tor nur kann auf Erden hoffen,
Zu genügen einem solchen Triebe:
Wen der Pfeil des Schönen je getroffen,
Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe!
Ach, er möchte wie ein Quell versiechen,
Jedem Hauch der Luft ein Gift entsaugen,
Und den Tod aus jeder Blume riechen:
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,
Ach, er möchte wie ein Quell versiechen!“
Es ist dies das Grundthema des Dandys. Zeit seines Lebens verbringt er damit, sich dem Phänomen der Liebe zu widmen, er sucht sie im Augenblick, hängt ewig an ihr, versucht, sich ihr nicht ganz willenlos auszusetzen, immer in der Hoffnung, dass sie sich gleichsam von selbst erfüllt. Er betreibt ein romantisches Ideal, das schon die Romantik nur schwer verwirklichen konnte, er gibt sich ihr hin, immer ganz, immer in der Furcht, sich völlig darin zu verlieren. In Thomas Hardys „Tess of the d’Urbervilles“ ist die Protagonistin, hinreissend verfilmt von Roman Polanski mit Nastassia Kinsky in der Hauptrolle“, von ihrer Liebe hin- und hergerissen und scheitert schliesslich an der Diskrepanz von lebbarer Liebe und den traurigen Notwendigkeiten – alles ist eine Frage des Timings: Als sie nach langem Zögern in die Arme ihres Verderbers zurückkehrt, kommt ihr Mann ins Spiel, der vor ihr nach Brasilien geflüchtet ist. Er hat sich nunmehr entschlossen, ihr zu verzeihen und will sie wiederhaben – Tess sagt darauf „es ist zu spät“ und ermordet kurz danach den vermeintlichen Wohltäter, um mit ihrem Gatten für kurze Zeit der Polizei zu entfliehen. Kurz darauf wird sie zum Tode verurteilt und gehängt. Es ist die Tragik des verstreichenden Moments, der verlorenen Möglichkeit, die ihr Leben vernichten. Liebe hat immer mit Vernichtung zu tun.
„Yet each man kills the thing he loves
By each let this be heard,
Some do it with a bitter look,
Some with a flattering word,
The coward does it with a kiss,
The brave man with a sword!“
schreibt Oscar Wilde und er weiss, wie recht er hat: Liebe ist immer zunächst reine Projektion des eigenen auf ein Gegenüber und es gilt, diesen Spiegelungseffekt zu erfahren, rechtzeitig einzugrenzen und sich seiner stets bewusst zu sein. Dandys sind im Idealfall dazu fähig. Meist jedoch leisten sie sich den letzten Luxus, den die moderne Gesellschaft noch bereithält: den der völligen Hingabe, jedenfalls zunächst. Bertrand Russell beschreibt in einen seiner Essays, dass der von Logik durchdrungene Mathematiker, der sein ganzes Leben auf seine Ratio ausrichtet, dennoch mit absoluter Sicherheit einer Zufallsbekanntschaft aus der U-Bahn vertrauen wird, dass sie eine gute Ehefrau abgeben wird. Er ist im besten Sinne des Wortes in Liebesdingen vollends irrational und ist sich dessen bewusst. Er geht das Risiko ein, sich für kurze Zeit völlig zu verlieren – darin unterscheidet er sich vom Dandy: dem geht das Gefühl für die Endlichkeit ab. Der Mathemiker bleibt auf ein Resultat fixiert, was ihn vom Dandy grundsätzlich unterscheidet. Dem Dandy ist das Liebesverhältnis, ob erfüllt oder unerfüllt, Erlebnis genug. Er schlürft am Kelch der Verführung, lässt sich hinabgleiten in die Tiefen der Irrationalität und geniesst den Rausch – er ist vielleicht zu oft nicht an den Folgen interessiert. Es sind dies zwei grundsätzlich sich widersprechende Auffassungen der Liebe: Die der Verwirklichbarkeit und die der Nichterfüllbarkeit alles Emotionalen. Auf lange Sicht ist Liebe in den Augen des Dandys ein Unwirkliches, das er sucht, aber nicht findet. Das zeitlich begrenzt bleibt, wenn es sich überhaupt einmal wahrhaftig zeigt. Doch wie alle Menschen hofft er insgeheim auf ein Wunder. Hofft im Grunde seiner immanenten Enttäuschung zu entfliehen. Hofft inständig, sich einmal, ein einziges Mal nur, zu irren.
In Eugen Onegin hat Alexander Puschkin diesen letzten Vertreter zum Prototypen werden lassen. Das schöne Mädchen Tatjana verliebt sich auf dem Lande in ihn und gesteht ihm in einem Brief:
Ich schreib an Sie – muss ich’s begründen?
Sagt dies nicht mehr als Worte tun?
Sie dürften, wenn Sie’s richtig finden,
Mich strafen mit Verachtung tun.
Doch wenn Sie etwas mitempfinden
Mit meinem Traurigen Geschick,
So stoßen Sie mich nicht zurück.
…
Der Himmel will es: ich bin Dein;
Mein Leben war dafür verpfändet,
Dass Du mich triffst und löst es ein;
Ich weiß es: Gott hat Dich gesendet,
Mein Hüter bis ans Grab zu sein…
Du bist mit oft im Traum erschienen,
Ich liebt Dich, eh ich Dich gesehn,
Dein Zauberblick ließ mich vergehn,
Und Deine Stimme klang tief innen
Mir längst… das war kein Traum, viel mehr!
Kaum tratst Du ein, und ich erkannte,
Ich fühlte nichts mehr, ich entbrannte,
Und sprach im Geiste: das ist Er!
…
Ich schließe! Schrecklich, was ich schrieb…
Ich sterbe fast vor Scham und Grauen…
Doch da mir Ihre Ehre blieb,
Will ich mich kühn ihr anvertrauen.
Onegin aber lehnt die Hingabe Tatjanas ab, weil er nicht mehr an die Liebe glaubt (es ist dies der Gemütszustand des resignierenden Dandys):
Erst waren beide stumm geblieben,
Dann trat Onegin zu ihr hin
Und sprach: „Sie haben mir geschrieben,
Gestehn Sie’s nur. Ich las darin
Vertrauensselige Konfessionen,
Unschuldiger Liebe Effusionen;
Ich schätze Ihre Lauterkeit;
Gefühle, die seit lange Zeit
Erkaltet, ließ sie wieder brennen;
Doch sie zu loben liegt mir fern;
Entgelten aber will ich’s gern
Und gleichfalls kunstlos mich bekennen;
Hier meine Beichte als Beweis:
Ich geb mich Ihrem Urteil preis.
„Hätt ich den Wunsch, mein ganzes Leben
Nur dem Familienkreis zu weihn;
Hätt mir ein freundlich Los gegeben,
Gemahl und Vater einst zu sein;
Hätten mich häuslichen Idyllen
Jemals verlockt auch nur im Stillen –
Um keine andre weit und breit
Als nur um Sie hätt ich gefreit.
…
„Doch seit ich in die Welt getreten,
Hab nie ich solches Glück begehrt;
Umsonst sind Ihre Qualitäten:
Denn ich bin ihrer gar nicht wert.
…
Sosehr ich Sie auch Liebte, bald
Ließ’ die Gewohnheit nicht schon kalt;
Sie würden weinen: Ihre Tränen,
Die stimmten dann mein Herz nicht mild,
Sie machten mich vielmehr nur wild.
…
So bin ich aber. War es das denn,
Was Ihrer Seele reine Glut
Gesucht, als Sie so schlicht und gut
Und geistreich Ihren Brief verfassten?
Hat etwa solches Los die Macht
Des Schicksals Ihnen zu gedacht?
…
So etwa predigte Onegin.
Tatjana sieht vor Tränen nicht,
Sie atmet kaum, sagt nicht dagegen
Und hört nur traurig, was er spricht.
Nach Jahren der Einsamkeit begegnet er Tatjana auf einem Ball wieder, sie ist inzwischen verheiratet und Fürstin, und er bereut seinen Entschluss bitterlich. Er lässt sich zu dem Geständnis hinreissen:
Ich weiß im voraus: Sie verletzt,
Was ich hier Trauriges enthülle.
Welch bitterer Verachtungswille
Schleicht in Ihr stolzes Auge jetzt!
Was will ich denn? ZU welchem Ziele
Lass ich Sie meine Seele sehn?
Welch schadenfrohe Spottgefühle
Lass ich dadurch vielleicht entstehn!
Zufällig lernt ich einst Sie kennen,
Sah Sie in zarter Neigung brennen,
Doch ihr zu trauen, wagt ich nicht:
Zwang mich zu ungewohnter Scheuheit,
War meine abgestandene Freiheit
Mir zu bewahren nur erpicht.
Dann hat noch einer uns geschieden…
Lenskis unseliges Opferlos…
Von allem, was dem Herz hienieden
Lieb war, riss ich mein Herz los;
Vereinsamt, unabhängig, müßig,
Glaubt ich, Freiheit und Müße wär
Ersatz für Glück. Mein Gott! Wie sehr
Hab ich geirrt, wie bitter büß ich…
Nein: unablässig Sie zu sehn,
Zu folgen Ihnen allerorten,
Ihr Lächeln, Ihren Blick erspähn
Verliebten Auges, Ihren Worten
Andächtig lauschen, mit dem Herz
All Ihres Wertes innewerden,
Vor Ihnen blass, in Todesschmerz,
Vergehn… heißt Seligkeit auf Erden!
…
Doch komme nun, was will: ich weiß
Mir selbst nicht mehr zu widerstreben.
Es sei: In Ihre Hand gegeben,
Geb ich mich meinem Schicksal preis.
Nach drei vergeblichen Briefen rafft er sich auf, die Fürstin persönlich aufzusuchen – er ist nun der hoffende Dandy. Sie versichert ihn aber des Sinnlosen seines Tuns:
Onegin, damals war nicht nur ich
Sehr jung, und schöner sicherlich,
Ich liebte Sie; und was erfuhr ich?
Was hielt Ihr Herz bereit für mich?
Was war die Antwort? Nur Verwarnung.
Nicht wahr, Sie kannten aus Erfahrung
Kleinmädchenliebe nur zu gut?
Noch jetzt – bei Gott! – gerinnt mein Blut,
Denk ich des Blickes nur, des kalten,
Und dieser Predigt… Nein, ich klag
Nicht an: An jenem Schreckenstag
Haben Sie nobel sich verhalten,
Da waren Sie im Recht vor mir:
Von ganzem Herzen Dank dafür…
Damals – nicht wahr? – so weltentlegen,
Fernab von müßigem Geschwätz,
Gefiel ich Ihnen nicht… Weswegen
Verfolgen Sie mich denn nun jetzt?
Warum sind Sie auf mich versessen?
Ist’s deshalb nicht, weil unterdessen
In höchsten Kreisen ich verkehr,
Weil reich ich bin an Geld und Ehr,
Weil, da mein Mann versehrt in Schlachten,
Der Hof uns überhäuft mit Huld?
Ist’s nicht, weil meine Schmach und Schuld
Gleich überall die Runde machten
Und Sie in der Gesellschaft drum
Erwürben delikaten Ruhm?
…
Dabei, Onegin, all die Pracht hier,
Des schalen Lebens Flitterkleid,
Erfolge, die die Welt gebracht mir,
Mein Haus, modern und gastbereit,
Was soll’s? Ich würde ohne Fragen
Sofort dem Mummenschanz entsagen
Und all dem Glanz und Lärm und Quark
Für ein paar Bücher, meinen Park,
Für unsre anspruchlosen Räume,
Die Stätten, wo ich Sie zumal,
Onegin, sah zum erstenmal,
Und für des stillen Friedhofs Bäume
An jedem Kreuz, in dessen Hut
Nun meine arme Njanja ruht…
„Und dabei war das Glück so möglich,
So nah! … Doch ist mein Schicksal nun
Entschieden schon. Ich war womöglich
Zu unbedacht in meinem Tun:
Die arme Tanja war verloren,
Als Mutter Tränen sie beschworen,
Galt jedes Los ja gleich… Und ich
Willigte ein. Sie dürfen mich,
Ich bitte Sie, nicht länger quälen.
Gehn Sie! Ich weiß: Ihr Herz bewahrt
Noch Stolz und Ehre echter Art.
Ich liebe Sie (wozu’s verhehlen?),
Doch gab man einem andern mich;
Ihm werd ich treu sein ewiglich.“
Es ist dies der vielleicht traurigste Beweis der Weltliteratur für einen Dandy, der zu spät gekommen ist, eines Dandys, dem das richtige Timing fehlt, eines Dandys, der an sich selbst verzweifelt.