Ich bin gerne Deutscher – Arbeitstitel eines positiv-patriotischen Essays

Da ist dieses unbestimmte Gefühl des Stolzes, wenn sich am frühen Morgen die ICE´s gegenüberstehen, Gleis 13 und 14 am Hamburger Hauptbahnhof – zugegeben, diese Züge haben mich in ihrer Eleganz schon immer ein wenig bewegt – und das Uhrwerk des deutschen  Wirtschaftsmotors in Form von kettenrauchenden Kofferträgern in zugegebenermassen manchmal doch recht formlosen und zerbeulten Sakkos ausschwärmt, Gewinne einzufahren. Dynamik liegt darin, man mag sich eine Tendenz zum Futurismo gefallen lassen, Schnelligkeit trifft auf weisse Pfeile mit nem roten Streifen, Kaffee wird gereicht und die freundliche Dame im Speisewagen kann sogar den grünen Schein wechseln und den ihren dabei wahren, denn wir sind hier bei der Deutschen Bahn, und schon die Lautsprecheransage gibt dann doch etwas beschämt eine Verspätung von sechs Minuten kund, man habe noch auf einen Anschlusszug gewartet, während das Hamburger Abendblatt kostenlos ausliegt und übrigens einen sehr guten Artikel über Reality Shows hat („Voll echt gespielt“, Alexander Schuller, S. 8 )  – selbstverständlich würde man versuchen, dies aufzuholen, und irgendwie glaubt man der freundlichen Stimme von oben. Zwar hat meinen Platz ein Migrant mit seinen Utensilien vollgestellt, ich bin kurz versucht, seine Aufenthaltsgenehmigung in Augenschein nehmen zu wollen, aber er scheint integriert, jedenfalls unterscheidet sich sein Deo nicht von dem der anderen Fahrgäste, fast ausschliesslich Männer, bis auf das Mädchen im Abteil vorn, das sich einfach mal quer hingelegt hat, auch rührend irgendwie und voll integriert, ein deutsches Mädel würde Sarrazin wohl befriedigt feststellen würde, wäre er hier – ich glaub eher, sie ist Dänin, aber das ist eine andere Geschichte…

Ich schrieb einmal von der gnädigen Hand, die unter einem die wirklich schönen Maintallandschaften (bin ich schon über die Grenzen von Hessen Nassau?) hinwegziehen, im nebel liegt Deutschland, grau-milchig-romantisch, und ich denke daran, vorsicht! intime Einlassung, wie ich mit 16 Jahren zum ersten Mal auf der Buchmesse war und dachte, da will ich hin, zu den Schriftstellern. Gestern plötzliche Erkenntnis, dass ich ja nun wiedr in einem anderen Alterssystem angekommen, tschüss, ihr alzternden Yuppies, ich bin mit vierzig jetzt noch ein junger Autor. In der Bank in Frankfurt stellt man sich offenbar die Frage, wer eigentlich Praxiteles sei, („porcella“, S. 37), nun, er ist der Erbauer des Parthenon – in der Passage geht es aber eher um den Faltenwurf, für den der Baumeister und Bildhauer des Perikles schon im Altertum gerühmt wurde, das sollte man, wie ich finde, schon wissen, aber notwendig für die gegenwärtigen Fährnisse des Lebens ist solch Kenntnis natürlich nicht unbedingt. Dennoch, als Deutscher, als Bildungsbürger mithin, halte ich es für nützlich und letztlich auch erreichbar, dem so kompliziert-korrupten System soviel Wissen wie möglich entgegenzustellen, man befindet sich so auf bekanntem Terrain – überdies bin ich der Ansicht, dass, wenn die Sinne im Alter doch schwinden, sich ein Spaziergang im profunden gedächtnis und Bilderschatz dann doch lohnen wird, denn wenn die deutsche Unterhaltungsindustrie so weitermacht, werden wir wohl alle gnadenlos uns noch zu Tode langweilen. Nun ja, „Wetten dass“ mit dem greisenhaften Gottschalk in dem, was deutsche Schwiegermütter wohl als trendig ansehen – Tommy, man sollte einfach wissen, wann es Zeit ist, und Du wirkst müde, und auch wenn sich der eine Wettkandidat gerade noch daheim in die Luft gesprengt hat, der Apllaus in den Totalen auf das Publikum war ja dann doch wohl eher zaghaft-verhalten. Der deutsche Humor ist ausbaufähig. Mein Vater ist der Ansicht, ich solle eher sagen, ich bin eher Europäer, was die Frage aufwirft, inwieweit denn Sarrazins Migranten in einem Europa aufgehen sollen, wenn Valéry Gistard-d-Éstaigne (ui, richtig geschrieben? – Im Tunnel geht das Netz nicht), immerhin Mitverfasser einer paneuropäischen Verfassung, die EU-Mitgliedschaft der Türkei für nicht ratsam, ja unmöglich hielt, wenn mich nicht alles täuscht. Mithin gefährliches Terrain, sich zu äussern, aber irgendwer muss es ja tun, und da ich außer meinem mir wohlvertrauten Roman keine andere Lektüre mitführe, schreib ich´s halt auf. Und wenn dann wieder der Vorwurf kommt, das alles sei zu lang, bitte ich doch darum, mit einem Ipad Vorlieb zu nehmen und dem Touchscreen dabei zuzusehen, wie er sich unter dem Fett der Finger dann doch eher eklig ausnimmt.

Ich war nicht immer gerne Deutscher und erinnere mich deutlich, an meinem Englisch solange gefeilt zu haben bis ich im Ausland fraglos als solcher durchging – und auch mein Vater berichtet von dem Dresden-Trip seines Kirchenchores von einiger Irritation in der östlichen Partnergemeinde – ich dagegen habe Wismar kennengelernt und die menschen dort und die wunderbare Marzipantorte im Café der ehemaligen Löwenapotheke, wobei es interessant ist, dass die Wismarianer schon seit Jahrhunderten ihrem Streben nach Höherem in unheimlich hohen Decken Ausruck verleihen… drei Riesenkirchen, St. Nicolai (check later, Anm. d. Verf.) wirft sich zu ganzen 37,5 Metern empor, und die grösste europäische Schiffsbauhalle – sie können dort zwei Pötte gleichzeitig basteln – ist derart überdimensioniert, dass man ihre Ausmasse nur in Relation zur davorliegenden Englandfähre der Stella-Reederei begreift. Ein deutsches Bauwerk also auf gut deutschem Boden, das meinen Anwalt Hendrik aber angesichts seiner fast zärtlich-verehrten Boule-Bahnen am alten Hafen relativ unbeeidruckt lässt, dafür hat er im Wohnzimmer Deckenbalkendickicht aus dem 16. Jahrhundert, natürlich auch deutsch, klar.

Oder nehmen wie Berlin. Dass ich im Café Einstein von einem Päarchen dazu aufgefordert werde, der Knzelrin, sollte sie mal reinkommen, doch ein Bein zu stellen oder wenigstens das Schild „Achtung Stufe“ zu entfernen, tröstet mich darüber hinweg, dass ich tags zuvor einer rentenausgestatteten Geriatrikerfront mich ausgesetzt sah: Düsseldorfer Schmerbauch samt Tussi erobert den letzten Tisch neben mir unter der Markise bei beginnendem Niesel, „ich hab doch gesagt, ich setz mich dahin“, auch wenn ich natürlich schon ne halbe Stunde länger dasass, und mein „Frechheit“ wird von der abziehenden anderen Dame, die mich hasst, weil ich rauchte, draussen, wohlgemerkt, zur kopfschüttelnden Rentnerbündelei ausgenutzt – zugegeben, in solchen Momenten bin ich etwas weniger gern Deutscher, aber der Café au Lait ist halt dort so gut. Tiefe Einblicke, nun gut, sind das vielleicht nicht, aber es ist auch teil dieses diffusen Gefühls, das die Bundesrepublik wiedervereint nach 20 Jahren einem Hauptstadtreisenden vermittelt, und damit gut.

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