Das Reich der Steine

Entschuldigen Sie bitte, wie spät ist es? Ja, meine Damen, wie oft am Tag schauen Sie eigentlich auf ihr Handgelenk, auf dem Weg zur Arbeit, nach Büroschluß, im Theater? „Hat der Supermarkt noch offen?”, oder „sind die Kinder schon aus der Schule?” Und, was sehen Sie? Sie sehen nichts. Oder das Falsche. Jedenfalls nicht ganz richtig. Eine Timex wahrscheinlich. Ne Swatch. Plastik. Aluminium. Irgendetwas Digitales, schwer zu programmieren. Mit Glück noch die Konfirmationsuhr. Oder eine, schon viel besser, goldene von Omi. Selten getragen. Passt aber seltsamerweise zu allem. Zum schwarzen von Prada. Zum Sporteln am Club an der Alster (Nicht unbedingt zum Rudern, klar). Zu T-Shirt und Jeans. Wie kommt das? Und was steht da eigentlich, ganz klein, am unteren Rand des Zifferblattes? „Swiss made”, vielleicht? Und, noch kleiner „Génève”? Sie Glückliche!
Denn die passende Uhr zum passenden Kleid ist ein Problem, jahrzehntealt. Jahrhunderte. Und weil man sich noch vor zwanzig Jahren nicht jedes Jahr ne neue Uhr kaufte, zum Wegwerfen quasi, oder zum in die Schublade schmeißen nach ein paar Monaten, haben findige Uhrmacher die Schmuckuhr entwickelt. Echt teuer. Wirklich. Aber passend halt. Und das ein Leben lang. Kleine, goldene Wecker. Auf die die Töchter alsbald spechten. Wertanlagen, mithin, tickende. Also: Bausparer auflösen, hin zum Juwelier, Nase ans Schaufenster pressen. Bevor es zu spät ist. Zeit ist Geld. Und für Frauen ist Zeit meist Gold. Pures Gold.
Denn ein Stäubchen davon, ein Atom, hat in Genf, wenn es von der Schweizer Nationalbank angeliefert wird, in Barrenform, 999,9‰ Feingold, im Kilo, mehrere Möglichkeiten: Es wird eingeschmolzen werden, da geben sie sich nichts, die Juweliere und Uhrmacher am und um den Lac Léman. Zu Pretiosen verarbeitet, auch darin ist der Unterschied nicht groß. Denn wenn sie eins verstehen, die Schweizer, dann ist es die Kunst, Gold zu Geld zu machen. Zu mehr Geld. Zu sehr viel mehr Geld, als der Goldmarktpreis es hergibt. Auch, wie es bei Chopard heißt, „wenn der Preis volatil ist”. Und dann legt man die Stirn ein wenig in Falten, ganz, wie es der Vizegeneraldirektor bei Piaget, nicht weit von hier, schon gestern tat. Und tut so, wir wollen es sagen, als sei bereits alles zu spät. Als denke man nach. Über den Goldpreis.
In Wirklichkeit, das ist nun eins der ehernen, nein, goldenen Gesetze hier in Genf, ist dieser Preis ganz egal. Denn was man daraus macht, aus dem Gold, darauf kommt es doch an. Und so wollen sie natürlich alle genannt sein, ganz genant: Die Manufakturen, die Juweliere und Herren über das Feine, zur Freude der teuren Damen.
Aber der Reihe nach, gehen wir nach dem Alphabet. Au, Aurum, Gold. Stippvisite bei Audemars Piquet, Cartier, Chopard. Bei Piaget. Und schließlich bei Vacheron & Constatin.
Deswegen, und weil jene Uhren zum Besten gehören, auch zum Besetztesten, was an weiblichen Handgelenken sich einfinden darf, zum Cocktail, zum Empfang, in der Oper, und ja! Jeden Tag! — deswegen also nun ein Blick in das hochgelegene und winters tiefverschneite Vallée de Joux, von dem ein Reisender 1770 berichtet: „Hier ersetzt die Industrie alles, was der Boden verweigert. Fast alle Bewohner sind mit dem Herstellen von Uhrenteilen beschäftigt… allgemein weisen sie eine große Geschicklichkeit auf.” Auf in ein 30 Kilometer langes und sechs Kilometer breites Tal, umgeben vom größten zusammenhängenden Waldgebiet Europas, hinter dem 1450 Meter hohem Col de Marchairuz, zu Audemars Piguet. „Sehen Sie, wenn es zwei Steine gibt” — sagt Monsieur Wehrli gerade, und schon verklärt sich sein Blick, denn wenn er von Steinen spricht, meint er natürlich Diamanten. Rubine auch. Manchmal Saphire, aber greifen wir nicht vor. Zwei Steine also, die „ein Händler uns anbietet. Die wissen ja, wonach wir suchen. Dann bauen wir die Uhr darumherum.” Das klingt jetzt einfacher, als es ist. Und deswegen ist so eine Uhr, „für eine Dame, die gerne Juwelen trägt” – und welche täte das nicht, Monsieur, liegt nun in seinem Blick, jenes mitleidige Auflächeln, womit man auch bei Cartier schon über Juwelen und den Preis des Goldes sprach, vielmehr: Schwieg. Also: „Nehmen wir doch einmal zwei tropfenförmige gelbe Diamanten, von etwa zwanzig Karat und dann ein winziges kleines Uhrwerk”, über hundertfünfzig Jahre Expertise und einige hochqualifizierte Uhrmacher und Juweliere: Dann, „sehen Sie selbst” hat man nach etwa drei Monaten, unendlichen Vorgängen des Polierens (hierauf ist man etwa bei Piaget besonders stolz, „die Kanten, sehen Sie nur, die scharfen Kanten!”), des Fassens, des Schleifens, der winzigen Handbewegungen und des Uhrfedern-Zusammenbauens, „dünner, als menschliches Haar” — eine Uhr.
Für Damen. Nicht irgendeine Uhr. Nein. Einen Show-Stopper. Eine „Moment-mal-ich-brauch-jetzt-einen-Fahrer-Schatz”-Uhr, mit dem jedes Taxi von hier bis zur Champs-Elysées, jeder Hindu am Steuer eines Yellow Cab jenseits und diesseits der Fifth Avenue, jeder schlechtgelaunte Weißrusse im schmutzigweißen Mercedes in Berlin anhält. Und lächelt. Und so vielleicht den Ohnmachtsanfall des daheimbleibenden Ehegatten vergessen läßt, der ja irgendwann die Rechnung erhält.
Dafür hat Madame aber auch – sehr zum Unterschied von ihrem Gatten – wahrscheinlich eine sehr gute Investition getätigt. Krisensicher. Die Zeiten überdauernd. Falls mal eine Revolution kommt. Eine Rezession. Oder die Steuerfahndung etwas ungemütlich wird. Sehr diskret, transportabel und im Unterschied zu Junk Bonds mit eingebauter Zeitangabe. Wie sagte noch Matthijs van Straaten bei Piaget? „Unsere Kunden werfen ihre Uhren selten weg.” Und dann wieder dieser schmerzlich-süße Gesichtsausdruck, der in Genf so häufig zu sehen ist. Gern erinnert man sich bei Chopard daran, dass die überaus erfolgreiche Damen-Uhr „Happy Diamonds” – eine Art Geduldsspiel für Ladies mit zuviel Zeit — die Goldene Rose 1977 als Herrenmodell gewann. Die Werbung von damals sieht denn auch ein wenig aus wie James Bond im Glück, was ja recht passend ist. Und in einer von Großkonzernen beherrschten Welt tut das Familienunternehmen der Scheufeles auch gut daran, sich noch immer ein wenig zu verhalten wie im Auftrag des Geheimdienstes ihrer Majestät. Es scheint fast, als wolle jeder Juwelier eigentlich Uhrmacher sein, und jeder Uhrmacher wünschte sich nichts sehnlicher als Juwelier sein zu können — und deswegen gibt es Uhren, hochkarätig wie Juwelen. Der Chefdesigner von Chopard, Patrick Beyerler, etwa hat gerade ein Kollier vor sich, über das zu sprechen auf den Tod verboten ist: „Golden Diamonds” heißt die neue Linie, weil einige Diamanten aus Gold sind, „fast so schwierig herzustellen, wie eine Uhr, nein, schwieriger.” Ah bon.
Ob Madame weiß, dass man bei Audemars Piguet im Dörfchen Bressus sogar den Uhrenboden noch immer mit jenem ringförmigen Mini-Schliff versieht aus der Zeit, als der Staub noch der Feind jeden Werkes war? Eine Maßnahme, die „nun, da wir absolut dichte Gehäuse herzustellen imstande”, eine reine Luxusmaßnahme ist. Ein Plaisir, eine Grille der Uhrmacher? Sie weiß es nun. Allerspätestens.
Die Fassung! Bei Piaget! Unfassbar! Ein Geflecht aus Platin, in der „Haute Joaillerie” angewandt, jener Abteilung, die Diamanten auf die vorhandenen Gehäuse verbringt, in einem aufwendigen und zeitraubenden Prozess, der in großem Stil und in noch größerer Stille in den Werkhallen vonstatten geht. Sauber ist es hier, sehr sauber, „wir wollen ja nicht, dass vom Gold etwas verloren geht, früher haben wir einfach nach einer gewissen Zeit die Schuhe der Werkmeister verbrannt, um auch den Staub einzufangen”. Bei Chopard behilft man sich hingegen mit riesigen Gebläsen, die den Goldstaub sofort einsaugen, noch von der Werkbank weg, um wieder recycelt zu werden, der Traum jeden Umweltministers.
Damit die Steine nicht herausfallen, denn dies ist wertmindernd und also zu vermeiden, werden computergesteuert kleine Vertiefungen in die Rohlinge gefräst. „Bei Piaget so, dass es unbedingt ästhetisch aussieht” — „Bei Audemars Piguet sehen Sie zum Schluß die Fassungen überhaupt nicht mehr, das haben wir hier entwickelt” – bei Cartier Tradition, einem etwas schwer zu findenden Büro in der Rue du Rhône 46, ist gerade einer der dreieckigen Diamanten aus einem der dort vorhandenen antiken Stücke herausgefallen: „Die Ohrringe waren gerade in Japan, in einer Ausstellung” sagt Bernhard Beyer, „wir werden anrufen lassen” — die Schmuckuhr aus dem Jahr 1923 ist allerdings völlig intakt, „wir restaurieren alles detailgetreu, wenn wir die Entwürfe in unserem Hause noch vorfinden, für unsere Kunden. Und so erhalten wir auch das Know How in der Firma. Ich finde, wir sollten doch in der Lage sein, uns um unsere eigenen Stücke zu kümmern, finden Sie nicht?” Bei Chopard ist der Blick durch eine der freundlich überlassenen Arbeitslupen Grund für frühe Erblindung, so dicht hat man die Juwelen in die Fassungen eingesetzt, und man versichert, dass ein Malheur wie das bei Cartiers altem Schmuck hier nicht passieren kann – wie wahrscheinlich auch nicht beim neueren des weltumspannenden Hauses, „aber sehen Sie, seit 1923 kann viel passiert sein an Strapazen und Belastungen”. Die recht lädierten Smaragde eines Armbandes hat Cartier soeben nachschleifen lassen, sie sind jetzt wieder wie am ersten Tag, was für das Qualitätsbewußtsein jener englischen Adelsfamilie spricht, die die Pretiosen in London soeben veräußert hat. 3 Millionen Dollar, versteht sich, und „denken Sie sich, neulich haben wir einen Rubin gefaßt, für einen Herrn, für diesen Preis, und seine Frau sagte `Ich trage immer nur höchstens eine Million am Leib´” — köstlich, ganz reizend, unbezahlbar!
Wie Vacheron & Constatin. Eine Adressen, an die Edelmetalle geliefert werden, um zu den genauesten Uhrwerken verarbeitet zu werden, die Geld kaufen können. Gerade sitzt eine Araberin mit amerikanischem Akzent vor der sehr verbindlich dreinblickenden Verkäuferin und läßt sich erklären, dass die soeben für kaum 20000 Franken erworbene Uhr durchaus biegsam ist. Sie war ein wenig in Sorge, als das Lederetui in die Tragetasche hineingebogen wurde, und man beeilt sich zu versichern, dass das „überhaupt nichts macht, Madame”.
Nun, einmal abgesehen von dem Äußeren einer Uhr, meine Damen, gibt es ja auch ihr Inneres. Und das, Mesdames, ist abgesehen von bunten Steinchen und edlen Metallen das, worauf man hier in Genf besonders stolz ist: Das Werk. So hat Vacheron & Constantin ein Caliber, so nennt man das Herz einer Uhr, das so stark und flexibel, „so klein und variabel ist”, dass man ohne Probleme eine Komplikation darauf installieren kann. Also einen ewigen Kalender, eine Mondphase, eine Stoppuhr, eine zweite Weltzeit, oder was das Herz mehr begehrt, Es gibt Zifferblätter in dreißig Schichten gebrannten Emails (nicht zu verwechseln mit den elektronischen Nachrichten gleichen Namens), schön wie barocke Pastellskizzen — auch auf größeren Herrenuhren, „aber es ist ja jetzt Mode für junge Damen, große Uhren zu tragen”. Das wichtigste solch eines Werks ist die Frequenz der Unruh, und wenn sie in der Stunde 28800 mal schwingt (in der Sekunde genau 480 Mal), dann kann man die 86400 Sekunden eines Tages ganz besonders genau messen: „Es ist reine Mathematik”, erklärt Monsieur Rudolf Büll, ein weltreisender Uhrmacher des Hauses, der nun das Verkaufspersonal des Hauses ausbildet und jedesmal noch von einem Werk fasziniert ist wie ein kleiner Junge beim Ballspiel. Klar: 3 mal 28800 gleich 86400, also: „die Uhr ist auf eine Abweichung von 1/86400 regulierbar. Es ist die genaueste Maschine, die der Mensch entwickelt hat”. Und damit seine Uhrmacher so weitermachen können, ist der Boden des Ateliers aus ganz dickem, erschütterungsfreien Beton — das Gebäude der neuen Manufaktur ist allerdings schon in Planung.
Dass die Fähigkeit, solche Werke zu erdenken, zu entwerfen und in die Tat umzusetzen, sich seltsamerweise im Vallée de Joux entwickelt hat, ja, dass „die Genetik jener Menschen sich aufs Uhrwerkbauen spezialisert zu haben scheint”, wie es bei Vacheron & Constantin heißt, ist wohl ein kleines Wunder. „Man kann diese Menschen nicht in der Stadt halten, sie werden dort verrückt” erklärt Monsieur. Er selbst habe einmal versucht, einen ledigen jungen Uhrmacher in Zweizimmerwohnung und einem kleinen Atelier zu installieren, „in Genf, zur Reparatur der Komplikationen.” Der Mann blieb keinen Monat, dann mußte er wieder nach oben. Die Bilder gleichen sich: Audemars Piguet in Bressus ist noch ein Beispiel für solche Verrücktheit, hier haben die Häuser mancher Familien besonders viele Fenster, weil „jeder Uhrmacher ein eigenes benötigt”, um die Augen in Fernsicht entspannen zu können von der Winzigkeit seines Tuns. Die Grandes Complications beispielsweise, die zu entwickeln einige Jahre, zu bauen Monate, zu bezahlen ein Leben lang dauern kann, werden hier gefertigt. Und nur dann jenseits eines hohen Passes in Genf in ihre Gehäuse montiert, dann, wenn sie das begehrte Gütesiegel der Stadt erhalten sollen. Ein anderes Zertifikat ist das der „Contrôle officiel Suisse des Chronomêtres” – heißbegehrt und nach 21 Tagen Testzeit soeben von einem neuen Tourbillon von Chopard errungen, eine Nachricht, die Uhrenliebhaber schon jetzt ein wenig schneller ticken lassen dürfte. Es versteht sich von selbst, dass jener 1795 von Abraham Louis Breguet erfundene und 1801 patentierte Mechanismus zur Erhöhung der Ganggenauigkeit von außen sichtbar sein wird, ein in freischwingendem Käfig gelagerte Unruh mit Unruhfeder, der sich meist einmal in der Minute um sich selbst dreht und den Einfluß der Gravitation auf das Uhrwerk ausgleicht — zu stolz sind Hersteller und Besitzer meist auf ihren Schatz. Da können so ein paar Juwelen am Gehäuse für die Augen der weiblichen Schätzchen auch nicht schaden. Die glänzen dann wahrscheinlich. Schimmern. Fast, wie Gold.

HARALD STAZOL

Veröffentlicht in MODE