Zur Frage der Vergangenheit

Die Rückschau liegt im Wesen des Dandys. Er geht darin konform mit dem herrschenden Kulturpessimismus, dem Wissen darüber, dass alles schon besser war und es nur noch schlimmer kommen kann. Dass nur noch Katastrophen zu erwarten sind. Er hofft dagegen an, das unterscheidet ihn vom Pessimisten, er hofft dagegen an, obwohl es sein Verstand ihm fast verbietet, er hofft, eben kein ständiges Rückzugsgefecht zu führen, bergauf, um mit dem Rücken schliesslich zu Wand zu stehen, während Barbaren die Landschaft verwüsten und die Bevölkerung massakrieren.

Er kennt die Beispiele aus der Geschichte (Dandys sind immer Historiker), er weiss um die Notwendigkeit des Kampfes und die Verführung des schnellen Erfolgs. Er oszilliert zwischen Sichaufraffen und Flucht, auf der Schneide eines schmal-scharfen Grates, dem der ruhmvollen Vergangenheit und der anbrandenen Wirklichkeit. Dandys träumen gern. Sie verwandeln das Vergangene in eine Abfolge von schönen Erlebnissen dort, wo der Bürger nur die Sukzession von Niederlagen und Verlusten sieht, solange es ihm eben gelingt. Er sieht das Parthenon vor seinem inneren Auge als prachtvollen Tempel, wo für Touristen nur noch Ruinen stehen, hört Cicero Auf dem Forum Romanum dort, wo die Kleinkrämer ihre Postkarten schreiend anpreisen.

Er empfindet dort, wo andere nur zählen. Er weiss manchmal nicht, ob er sich dem Neuen entgegenstellen muss, oder sich dem Rückwärtigen besser zuwendet – dies ist eine Folge seiner Zeitlosigkeit. Ihm ist alles ständiger Fluss, pantha rhei, und manchmal ist es schwierig, darin Fuss zu fassen. Das Vergangene ist ihm Begründung der Hoffnung, von der er lebt. Der Untergang des Abendlandes ist ihm ein fortwährendes Schauspiel, eine Komödie, die immer neue Momente der Lächerlichkeit für ihn bereithält, während alle anderen verzweifeln. Er unterscheidet sich vom ewigen Optimisten in seiner Unfähigkeit, seiner Hoffnung dauerhaft zu vertrauen. Zwar wird er immer wieder darauf zurückgeworfen, allein das Vertrauen in die wundervolle Zukunft geht ihm ab. Es liegt in seiner Disziplin, möglichst vieler Fetzen des positiv zu Erwartenden zu erlangen. Dies ist sein Tor zum Vergnügen.

Dandys lächeln immer. Sie vergleichen häufig Momente des Seins mit Anekdoten des Vergangenen, was sie darin bestätigt, dass die Dinge letztlich immer gleich bleiben. Sie wissen insgeheim, dass dies nicht immer so ist, aber sie gefallen sich im Auflachen darüber, dass sich alles immer ähnelt. Dandys lachen gern.

Dafür, dass es eigentlich immer etwas zu lachen gibt, sorgt, wie gesagt, die Umwelt. Ob es um den Ämterwahn oder den Formularkrieg geht, die Tatsache, dass man bei der Suizidambulanz anruft, „Ich möchte mich gern umbringen“ sagt und die „Kommen Sie dann am Donnerstag“ antworten (das geschah wirklich, zu weiteren Details später mehr…) oder einem von bösen Hausmeistern ohne Vorwarnung das Wasser abgestellt wird, wie heute soeben geschehen, wegen Reparaturarbeiten, die keiner braucht – man muss einfach darüber lachen. Telefongesellschaften mit höchst übertriebenen Forderungen gehören zum letztlich komischen genauso, wie die Künstlersozialkasse, die einem schriftlich mitteilt, dass man nach den neuen Bestimmungen de jure kein Künstler mehr ist… wenn das alles nicht so lustig wäre, könnte man schon daran verzweifeln. Ich glaube, diese Balance stetig zu halten, eine pergamentene Trennwand zwischen Triumph und Tragödie zu sein, ist vielleicht die vordringlichste Aufgabe eines wahren Dandys.

Vergangenheitsbewältigung gehört ebenfalls zu seinen Seinsgründen: Die der eigenen sowie die der stattgefundenen überhaupt. Es ist nicht gerade einfach, sich über sein Tun und Streben ständig Rechenschaft ablegen zu müssen, ob der täglichen Selbstkritik ist es ein anspruchsvolles Unterfangen, sich immer wieder im Spiegel zu verlieren, erhobenen Hauptes, im Bewusstsein, dann doch richtig gehandelt zu haben. Gestern fragte mich ein Freund, wie gross meine Liste sei der Dinge, die ich mir hätte sparen können. Ich glaube nicht, dass es so eine Liste geben kann, Man käme auf dauer damit nie zurecht. Man tut die Dinge eben immer auf eine gewisse Art, und in dem Moment, indem man sich zu etwas durchgerungen und entschieden hat, ist die Situationsentscheidung ja schon gefallen. Einmal getan, gibt es eben kein Zurück mehr. Es ist womöglich dieses Wissen um die Unausweichlichkeit seines Tuns, das den Dandy in die Nähe des christlichen Glaubens rückt, des katholischen mithin, – und tatsächlich sind ja in der viktorianischen Geschichte sehr viele Dandys zum echten, wahren Glauben konvertiert, wohl auch in der Hoffnung auf ein gewisses garantiertes Seelenheil, nicht zuletzt aber auch wegen des unbeschreiblich aufwendigen rituellen Zeremoniells, zu dem sich der Vatikan ja noch manchmal aufschwingt. Wieder ist es eine gloriose Vergangenheit der ungebrochen am längsten wirkenden Institution, die den besonderen Reiz ausmacht, ihr zu folgen.

In wirklich großen Momenten erscheint dem Dandy seine persönliche Geschichte wie eine stete Abfolge von Liebesaffären, die, erfüllt oder unerfüllt, seinem Dasein erst die wirkliche Bedeutung gegeben haben. Man erinnert sich an Spaziergänge in der Nacht, an Szenen auf Parkbänken, Feuerwerke des Glücks und auch durchweinte Stunden. Es liegt im Wesen des Dandys, sich leicht zu verlieben und nur schwer wieder davon loszukommen. Er hat immer verliebt zu sein, es erleichtert sein Leben und macht ihn seiner selbst sicher. Es ist die Verliebtheit ja eine Art Gewahrwerdung der Umwelt, des Menschen an sich, wie sie sich brillianter kaum denken lässt. Sie ist eine Bewegung und Projektion in Zukünftiges, erfüllt sich im Moment und zieht einen Kometenschweif am Himmel der Emotionen nach sich, der in der Erinnerung nicht verlischt.